Die UN-Flagge weht falsch herum über den Erdbeben-Trümmern in Syrien.

Humanitäre UN-Hilfe ohne Mandat möglich

Humanitäre UN-Hilfe für Nordsyrien – das war schon vor den Erdbeben ein Thema zum Verzweifeln. Nicht ausreichend, stockend und immer auf der Kippe, denn in den vergangenen Jahren hat Russland im UN-Sicherheitsrat mit seinem Veto dafür gesorgt, dass nur noch ein Grenzübergang für UN-Hilfskonvois nach Nordwestsyrien offen ist. Aber stimmt das überhaupt? Wir klären auf.

Die UN-Flagge weht falsch herum über den Erdbeben-Trümmern in Syrien.

Auf beiden Seiten der türkisch-syrischen Grenze liegen ganze Städte in Trümmern, es gibt Zehntausende Tote, mehrere Millionen Menschen sind von den Folgen betroffen und benötigen Hilfe. Sowohl in der Türkei, als auch in Nordsyrien ist die Not riesig, denn Naturkatastrophen machen vor Staatsgrenzen keinen Halt. Lebensrettende UN-Hilfskonvois allerdings schon. Denn während in der Türkei ab Tag eins ein internationales Großaufgebot an humanitärer und technischer Hilfe anlief, wartet man in vielen Gegenden Nordsyriens noch jetzt vergebens. Selbst die routinemäßigen UN-Hilfslieferungen aus der Türkei in den Nordwesten Syriens wurden nach den Erdbeben vorübergehend ausgesetzt, da der Grenzübergang Bab al-Hawa durch die Katastrophe zunächst unzugänglich geworden war. Dabei hätte es weitere intakte Grenzübergänge gegeben, um Hilfsgüter ohne Verzögerungen zu liefern. 

Nur ein Grenzübergang für humanitäre Hilfe? 

Seit 2014 sind die grenzüberschreitenden Hilfseinsätze der Vereinten Nationen in Syrien von entscheidender Bedeutung für die Versorgung der Menschen im Nordwesten Syriens – ein Großteil der dort lebenden 4,5 Millionen Menschen ist unmittelbar auf sie angewiesen. Doch die ständigen Vetos Russlands im UN-Sicherheitsrat gegen grenzüberschreitende Hilfseinsätze in den letzten Jahren haben den Zugang für humanitäre Hilfe immer weiter reduziert – seit 2020 steht nur noch Bab al-Hawa zur Verfügung, der Nordosten ist komplett abgeschnitten.

Schon vor den Erdbeben kam deshalb viel zu wenig Hilfe im Nordwest-Syrien an. Dabei ist ein UN-Mandat für humanitäre Hilfe hier gar nicht nötig, darin sind sich Jurist*innen und Rechtsexpert*innen einig. Entsprechend hätten schon vor den verheerenden Beben alle weiteren Grenzübergänge für UN-Hilfslieferungen genutzt werden können – russisches Veto hin oder her.  

Humanitäre Hilfe ohne UN-Mandat möglich und nötig!

Warum ist das so?

  1. Die Vereinten Nationen erfüllen eindeutig die erste Bedingung für legitime humanitäre Maßnahmen. Nämlich: die Einhaltung der Grundsätze der Menschlichkeit, Neutralität, Unparteilichkeit und Nichtdiskriminierung bei der Bereitstellung von Hilfe. Der Internationale Gerichtshof, das Rechtsorgan der UN, bestätigte, dass humanitäre Hilfe unabhängig von der politischen Zugehörigkeit der Betroffenen geleistet werden kann, ohne als unrechtmäßige Intervention oder Verstoß gegen das Völkerrecht verstanden zu werden.
  1. Die am meisten von den Erdbeben betroffenen Gebiete befinden sich außerhalb der Kontrolle des Assad-Regimes. Völkerrechtlich ist daher nur die Zustimmung der Gruppen und Parteien notwendig, die de facto die Zielgebiete kontrollieren, um humanitäre Hilfe zu leisten. 
  1. Alle zustimmungspflichtigen Akteure können gemäß dem humanitären Völkerrecht ihre Zustimmung nur aus triftigen rechtlichen Gründen verweigern, nicht aus willkürlichen. Beispielsweise können Parteien ihre Zustimmung aus Gründen der „militärischen Notwendigkeit“ vorübergehend verweigern, wenn auf der vorgeschlagenen Hilfsroute unmittelbar bevorstehende militärische Operationen stattfinden werden. Sie können jedoch nicht rechtmäßig die Zustimmung verweigern, um den Widerstand des Feindes zu schwächen, Zivilist*innen verhungern zu lassen oder medizinische Hilfe zu verweigern. Wird die Zustimmung aus diesen willkürlichen Gründen verweigert, ist die Hilfsaktion auch ohne Zustimmung rechtmäßig.
  1. Nichtregierungsorganisationen unterstehen nicht dem Völkerrecht. Humanitäre Hilfe kann jederzeit weiterhin von ihnen geleistet werden. Der UN und allen Staaten steht es grundsätzlich frei, diese indirekt zu unterstützen.

Humanitäre Hilfe ist daher dann unbedingt legitim, wenn das willkürliche Untersagen zu Hunger und Not der Bevölkerung oder Bevölkerungsgruppen führt. Die Menschen, die in Regionen außerhalb der Kontrolle des Regimes leben, leiden nicht erst seit den Erdbeben der vergangenen Wochen. Sie sind aufgrund der Repressionen und Bombardierungen des syrischen Regimes seit mehr als einem Jahrzehnt auf humanitäre Hilfe angewiesen. Gerade jetzt ist es unbedingt notwendig, diese auch zu leisten.

Was also hat die UN so lange daran gehindert, früher die dringend benötigte humanitäre Hilfe über die türkische Grenze hinweg zu leisten? 

Der politische Wille fehlt

Obwohl die UN sehr genau über die völkerrechtlichen Bestimmungen Bescheid weiß, wartete sie auf die Zustimmung des Assad Regimes weitere Grenzübergänge nutzen zu dürfen. Erst am 13. Februar hat Assad zugestimmt, dass zwei weitere Grenzübergänge für humanitäre Hilfe geöffnet werden können. Dahinter steckt keinesfalls die Einsicht und Bereitschaft den Betroffenen in den Gebieten außerhalb seiner Kontrolle Hilfe zu gewähren, sondern politisches Kalkül. Das Regime möchte auf das internationale Parkett zurück und sich rehabilitieren. Mehr aber noch dürfte Russland Druck ausgeübt haben und sich in die Verhandlungen eingeschaltet haben. Welche Zugeständnisse dafür gemacht wurden, ist unklar. Sicher ist: Das politische Gezerre um humanitäre UN-Hilfe und das lange Abwarten der UN schadet einzig und allein der Zivilbevölkerung. Dabei sollte deren Unterstützung und Überleben im Fokus stehen.