An einem Nachmittag im September 2012 schickte ich meinen Sohn Maher zum Flughafen von Damaskus, damit er seinen Vater abholt. Wenig später rief ich ihn noch einmal an, um zu fragen, wann sie zu Hause ankommen würden. Ich erinnere mich an seine Stimme, wie er sagte: „Mama, Du kannst schon mal das Abendbrot vorbereiten, dann können wir gleich zusammen essen.“ Ich weiß nicht, ob es die Intuition einer Mutter war, aber zehn Minuten später hatte ich auf einmal das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt.
Ich rief Maher noch einmal an, um sicherzugehen. Aber sein <>Telefon war aus. Bis spät am Abend habe ich gewartet. Bis zehn Uhr, elf Uhr habe ich alle fünf Minuten angerufen – aber nie hat jemand geantwortet. Es war das letzte Mal, dass ich seine Stimme hörte. Bis heute. Seit diesem Tag konnte ich nicht in Erfahrung bringen, was mit meinem Sohn und meinem Mann passiert ist. Ich habe überall nachgefragt. Bei den syrischen Behörden, auch bei internationalen Stellen.
Mein Mann Abdelaziz war als Oppositioneller im Ausland angesehen, viele kannten ihn, aber niemand wusste etwas über seinen Verbleib. Alles was ich weiß: Mein Mann und mein Sohn wurden damals am Flughafen festgenommen. Doch alle Behörden streiten ab, dass das Assad-Regime irgendetwas mit ihrem Verschwinden zu tun habe – das Regime, das in Syrien alles kontrolliert.
95.056 „Verschwundene“
in Syrien von März 2011 bis August 2018
Ich kenne dieses Regime von innen: 35 Jahre lang war ich Angestellte im öffentlichen Dienst. Bis 2011 arbeitete ich bei der Damaszener Stadtverwaltung. Dann kündigte ich, weil ich das Vorgehen des Staates nicht länger ertragen konnte. Vor allem aber kenne ich das Regime, weil ich selbst in seinen Gefängnissen saß. Festgenommen wurde ich von meinem eigenen Bruder. Meine Familie war gespalten: Einige unterstützten das Regime, mein Bruder war Chef der Gefängnisse des politischen Geheimdienstes. Aber mein Mann und ich waren in der verbotenen kommunistischen Arbeitspartei aktiv. Wir wollten ein gerechteres, freies Syrien ohne Korruption und Diktatur. Wer anderer Meinung war als die Machtha- benden, war in Gefahr – und ist es heute erst recht. Mein Mann war 14 Jahre im Gefängnis unter Hafez al-Assad, dem Vater von Bashar al-Assad. Mich haben sie 1992 geholt.
Zwei Jahre blieb ich in Haft. Alles im Gefängnis war furchtbar. Aber das Schlimmste war der Umstand, dass ich meine beiden Kinder zwei Jahre lang nicht gesehen habe. Maher, der jetzt selbst inhaftiert ist, war neun, sein Bruder fünf. Stell Dir den Schmerz einer Mutter vor, die einfach so verhaftet und von ihren Kindern getrennt wird. „Wie konntest du uns alleine lassen, obwohl wir dich brauchen?“, fragte mich Maher nach der Freilassung. Ich versuchte ihm zu erklären, dass ich alles tun würde, damit er und sein Bruder eines Tages nicht der gleichen Unterdrückung ausgesetzt wären. Doch ich bin gescheitert: Maher ist selbst seit sechs Jahren in den Händen des Regimes, genauso wie mein Mann Abdelaziz.
Der Ausbruch der Revolution von 2011 hatte plötzlichen Optimismus in unser Leben gebracht, gemeinsam wollten wir ein anderes politisches System, wollten wir Freiheit. Sechs Monate lang bestand unsere Revolution aus friedlichen Demonstrationen. Doch Polizei und Militär setzten so lange Gewalt ein, bis die Ersten anfingen, sich selbst zu bewaffnen. Damit kam die Revolution von ihrem Weg ab. Mein Mann hatte sich bis zu seinem Verschwinden gegen die Bewaffnung der Revolution und den Weg der Gewalt eingesetzt. Umso mehr schmerzt es mich, wenn ich an die Zerstörungen denke, an die Hunderttausenden von Toten, an die Zehntausenden Gefangenen.
Millionen haben Syrien verlassen, Hunderttausende sind tot, Zehntausende weiter in Haft. Wer jetzt noch in Syrien ist, will nur noch überleben, will sich nicht mehr fragen, ob der eigene Sohn zurückkommt, wenn er das Haus verlässt, oder für immer verschwindet. Die Bevölkerung ist müde. Das ist eine Art Kapitulation, aber ein Frieden ist es nicht. Bashar al-Assad ist immer noch da und noch immer verschwinden Menschen einfach so.
4.082 willkürliche Festnahmen
im ersten Halbjahr 2018
Inzwischen erscheint es, als ob die internationale Gemeinschaft gar nicht wolle, dass er geht. Statt für die Verfolgung der Verbrecher zu sorgen, redet Europa über den Wiederaufbau in Syrien. Kaum jemand spricht noch über die zehntausenden Familien, die nichts über den Verleib ihrer Angehörigen wissen. Ich frage mich: Wollt ihr wirklich auf Gerechtigkeit verzichten? Wollt ihr Syrien auf den Leichen unserer Liebsten wieder aufbauen?
Menschen in Syrien verschwinden in den Gefängnissen, werden gefoltert, werden getötet. Während hierzulande laut darüber nachge- dacht wird, das Assad-Regime einfach wieder zu akzeptieren, lebe ich jeden Tag, jede Minute in Angst um Abdelaziz und Maher. Ich werde deshalb nicht aufhören, an sie und die anderen Verschwundenen und Gefangenen zu erinnern. Statt Milliarden für das Assad-Regime zum Wiederaufbau
Syriens braucht es die Freilassung der Gefangenen. Die Folterer und Mörder müssen zur Rechenschaft gezogen werden. Ich habe vieles ertragen, gebrochen worden bin ich nie. Doch sollte es eines Tages so weit kommen, dass syrische Flüchtlinge abgeschoben werden und Deutschland normale Beziehungen zum Assad-Regime unterhält – dann würde ich den Glauben an Menschenrechte und Demokratie vollends verlieren.
Dieser Beitrag stammt aus der neuen Adopt-a-Revolution-Zeitung. Lesen Sie hier alle Beiträge oder bestellen Sie einige Exemplare zum Verteilen!
Adopt a Revolution unterstützt in Syrien 13 Projekte der syrischen Zivilgesellschaft, die sich für Gerechtigkeit ohne Diktatur und Dschihadismus einsetzen und arbeitet hierzulande gegen die schleichende Akzeptanz des syrischen Unrechtsregimes. Unterstützen Sie diese Arbeit mit Ihrer Spende!