Vor einem Jahr schickten AktivistInnen des lokalen Komitees aus Erbin, einem Vorort von Damaskus, ihre Bilder von den Giftgas-Angriffen um die Welt. Doch schnell verzog sich die Aufmerksamkeit wieder und die Menschen in den betroffenen Gebieten wurden mit ihren Problemen alleine gelassen – zu denen neben dem Giftgas auch die Korruption der bewaffneten Einheiten gehört. Nach einem Jahr sprachen wir mit Sami vom Komitee darüber, was die Probleme sind und warum die zivilen AktivistInnen weiter machen in ihrer Selbstorganisation.
Wie ist die derzeitige Lage in Erbin?
Angespannt, sehr angespannt. Nach langer Zeit gibt es wieder Unruhen und Demonstrationen, diesmal gegen die Brigaden, die Erbin beherrschen, und die nichts für die Versorgung der Bevölkerung tun. Die BewohnerInnen protestieren gegen die miserable Lage, die durch die anhaltende Belagerungssituation absolut unerträglich und geradezu mittelalterlich geworden ist. Zudem hat sich Erbins Situation zugespitzt, weil es inzwischen der letzte Vorort nahe der strategisch wichtigen Homs-Autobahn ist, der noch nicht wieder vom Regime eingenommen wurde. Ein Angriff der Armee wird daher erwartet.
Wie wirkt sich die Situation auf die zivilen Aktivisten aus?
Manche Brigaden-Kämpfer wollen ihren Frust an den Zivilen ablassen, weil sie sie beschuldigen, hinter den Demonstrationen zu stecken. Andere beschuldigen die Aktivisten, einen Waffenstillstand mit dem Regime zu bevorzugen. Doch unser lokales Komitee (LCC) hat großen Rückhalt in der Bevölkerung, die weiß, dass es der einzige Akteur ist, der noch ihre Interessen vertritt. Die zweite Demonstration gegen die Brigaden hat deshalb auch explizit das Komitee unterstützt, mit Sprechchoeren und Klatschen. Doch das Problem ist, dass die Zivilisten im Falle einer ernsthaften und gewalttätigen Bedrohung den zivilen AktivistInnen auch nicht viel Schutz bieten können.
Es jährt sich der Chemieangriff auf Erbin, bei dem über 1.300 Menschen durch Giftgas starben. Was hat sich seitdem verändert?
Was sich verändert hat ist die Überzeugung der Menschen. Jetzt steht fest, dass keine Hilfe von außen kommen wird. Diese Hoffnung ist definitiv weg. Es war auf jeden Fall sehr bitter für die Leute, denn das wollten sie schon zuvor lange nicht wahrhaben. Aber als drei, vier Wochen nach dem Gas-Angriff, nachdem die UN-Beobachter wieder weg waren, einfach keiner mehr kam, da haben die Leute begriffen, dass wir alleine gelassen werden. Sie schauen jetzt deshalb nach vorne, versuchen die Lage selbst in die Hand zu nehmen.
Der Alltag ist jedenfalls nicht mehr, wie vor einem Jahr. Es gibt Familien, die die meisten Mitglieder verloren haben. Ich kenne eine Familie, da hat nur ein Kind und eine Oma überlebt. Bei manchen ist die ganze Familie ausgelöscht. In einigen Fällen haben kleine Kinder überlebt, aber die ganze Familie ist umgekommen oder die Verwandten sind ins Ausland gegangen. Aber wegen der Belagerung können wir die Kinder nicht einfach nachschicken – und bei manchen ist auch einfach unklar, zu wem ein Kind gehört.
Kleinere Angriffe mit chemischen Kampfstoffen gibt es immer wieder. Vor einem Monat zeigten ein paar Verwundete von einem Granateinschlag Anzeichen von Gasvergiftungen. Aber bei so kleinen Konzentrationen können wir nicht wissen, ob das durch die giftigen Anteile des Sprengstoffes entsteht, oder durch ein bewusst eingesetztes Giftgas.
Dem Regime misstrauen alle, wir trauen ihm jede Aktion zu. An dem Tag des Chemiewaffenangriffs letzten August hat hat die Armee die Checkpoints geschlossen. Obwohl es eine Medikamentenfabrik in der Nähe von Erbin gibt, konnten keine Medikamente oder Rettungskräfte in das betroffene Gebiet gelangen. Daran machen wir fest, dass der ganze Anschlag geplant war. Trotzdem ist für die Bevölkerung ist die Schuldfrage zweitrangig. Es geht jetzt ums Überleben und so sind manche wieder in die Gebäude eingezogen, in denen die vorherigen BewohnerInnen am Giftgas erstickt sind.
Wie ist die Beziehung zwischen der Bevölkerung und den bewaffneten Brigaden?
Schlecht, sehr schlecht. Die Anführer der Brigaden verhalten sich inzwischen wie Warlords, die nur daran interessiert sind, sich durch Schutzgelder und Checkpoint-Schmuggel zu bereichern. Sie interessieren sich überhaupt nicht für die Situation der Bevölkerung. Zwar stammen die allermeisten Kämpfer aus Erbin und viele verdienen ihren Lebensunterhalt durch eine Anstellung bei den Brigaden. Doch sie arbeiten nur für sich. Zum Beispiel gibt es einen Anführer, der früher eine Autowaschanlage hatte. Der hat dann er hat eine Brigade gegründet und inzwischen ist er unglaublich reich. Seine Kämpfer kontrollieren „innere“ Seite der Checkpoints und verlangen Zoll für alles. Während er mit seiner Waschanlage vielleicht 100 Euro am Tag verdient hat, macht er heute vielleicht 20.000. Der hat kein Interesse daran, dass es zu einer Lösung im Konflikt kommt.
Ist die Fanatiker-Organisation ISIS in Erbin präsent?
Nein, ISIS ist in Erbin passiv, keine der Erbiner Brigaden zählen zu den Dschihadisten. Die sind alle moderat islamisch. ISIS schaut zwar immer wieder einmal vorbei, aber sie greifen nicht ein. Aber die Bevölkerung sieht inzwischen die Gefahr von größerer Islamisierung ambivalent: ISIS hat den Ruf, wenigstens nicht korrupt zu sein, wie die jetzigen Anführer. Auf diese Weise, und weil die Menschen einfach nicht mehr auf Unterstützung von außen zählen können, haben Nusra und ISIS angefangen. Natürlich jubeln die Menschen da erst einmal. Von den Gefahren der terroristischen Dschihadisten wissen die Menschen hier nicht so viel, denn es gibt keinen Strom, die Menschen schauen kein Fernsehen. Wir versuchen da mit unserer kleinen lokalen Zeitung etwas aufzuklären.
Welche zivile Arbeit ist in dieser Situation überhaupt noch möglich?
Trotz der Umstände können wir immer wieder Erfolge verzeichnen. Wir haben acht Schulen aufgebaut, für 5.000 SchülerInnen mit 215 LehrerInnen. Wir haben zwar lange gebraucht – Planung, Anträge schreiben, Finanzierung absichern –, aber anders als in die Koranschulen der islamischen Kämpfer wollen die Eltern ihre Kinder in diese Schulen schicken. Sie bevorzugen einen säkularen Unterricht für ihre Kinder, was den Kämpfern natürlich wieder ein Dorn im Auge ist.
Zusammen mit Adopt a Revolution haben wir als Komitee außerdem ein Zentrum für Zivilgesellschaft entwickelt und aufgebaut. Das ist jetzt auch der Sitz für unser Komitee, wo wir unsere Arbeit eng mit der anderer ziviler Akteure in der Stadt verzahnen können. Wir bieten Kurse für Kinder und Erwachsene an, haben eine Bibliothek und beziehen die Menschen in die Entscheidungsstrukturen ein. So bauen wir eine Basis für Demokratie.
Derzeit planen wir außerdem ein Landwirtschaftsprojekt, um auf den Feldern rund um die Stadt Gemüse und Lebensmittel anbauen zu können. Damit soll die Versorgungssituation verbessert werden, denn gerade im Winter wird alles knapp – und wir können etwas gegen die Korruption der Brigaden unternehmen.
Was ist ein Jahr nach dem Giftgasangriff das Wichtigste für eure Arbeit?
Wir sind ausgelaugt vom täglichen Kampf ums Überleben. Zwar versuchen wir alles, um uns neue Perspektiven zu schaffen, bauen neue Projekte auf und arbeiten weiter. Aber wir brauchen auch den Kontakt nach außen und wir brauchen dringend die Aufmerksamkeit der Menschen.
Wir haben häufiger Interviews mit Sami aufgezeichnet. Drei Monate nach dem Giftgas-Anschlag war er voller Hoffnung, später hat er das Ziel der AktivistInnen in Erbin beschrieben, dass sie Normalität schaffen wollen.
Viele der Bilder vom Giftgas-Einsatz vor einem Jahr wurden vom lokalen Komitee in Erbin aufgenommen und um die Welt geschickt. Adopt a Revolution unterstützt die zivile Arbeit des Komitees seit Ende 2012. Helfen Sie mit!