Die Zeiten, in denen der IS große Gebiete kontrollierte, sind vorbei. Aber wie lange noch?

IS-Comeback durch türkischen Angriffskrieg in Nordostsyrien

Der IS hofft seit Jahren auf sein Revival in Syrien und ausgerechnet der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan, selbsterklärter Terrorismusbekämpfer, ist dabei sein derzeit wichtigster Unterstützer.

Die Zeiten, in denen der IS große Gebiete kontrollierte, sind vorbei. Aber wie lange noch?

Die radikal-islamistische Miliz „Islamischer Staat“ kontrollierte jahrelang große Gebiete in Syrien und dem Irak. Diesen De-facto-Staat zerschlug die Anti-IS-Koalition 2019 final, seitdem gilt der IS als militärisch besiegt. Gänzlich weg war er jedoch nie – er hat sich in Schläferzellen, die über Städte und Dörfer verstreut sind, neuformiert. Allein südlich von Hassaka gibt es noch etliche Dörfer, die damals komplett unter der Kontrolle des IS standen und im Anti-Terror-Kampf der US-geführten Koalition vollständig zerstört wurden. Die Orte wurden nicht wiederaufgebaut und dienen den Terrorzellen jetzt als Versteck und Unterschlupf.

Immer wieder verüben radikal-islamistische IS-Kämpfer Anschläge. Im vergangenen Jahr nahmen diese jedoch wieder deutlich zu. Laut der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte (SOHR) machte sich die Miliz u. a. die Tatsache zunutze, dass die Öffentlichkeit Anfang Februar 2023 mit den verheerenden Erdbeben befasst war. Das SOHR hat über 165 Angriffe des IS allein im Nordosten Syriens im vergangenen Jahr dokumentiert – einer an jedem zweiten Tag. Aber auch die zunehmende Eskalation türkischer Angriffe auf die kurdischen Gebiete im Nordosten Syriens hilft dem Erstarken des IS und lockt seine Kämpfer aus dem Untergrund.

Ironischerweise bezeichnete der türkische Präsident seinen Krieg gegen Nordostsyrien ausgerechnet als Kampf gegen den Terror. Die Region solle von Terroristen gesäubert werden. So begründete auch der damalige türkische Außenminister Çavuşoğlu 2022 den neuerlichen Angriffskrieg. Gemeint war und ist nicht der IS, sondern die Kurdenmiliz YPG, die von der Türkei als Ableger der PKK gesehen wird. Sie ist als militärischer Arm der kurdisch-dominierten Selbstverwaltung die wichtigste Partnerin der USA im Kampf gegen den IS-Terror. Der Türkei ist sie ein Dorn im Auge.

Krieg und Terror gehen Hand in Hand

Bereits im Juni 2022 warnten wir davor, dass Erdoğans völkerrechtswidriger Angriffskrieg dem IS Vorschub leisten und in die Karten spielen wird. Anfang des Jahres hatten IS-Terrorzellen versucht, das al-Sinaa-Gefängnis in Hassaka in einem groß angelegten Befreiungsversuch zu infiltrieren. Tausenden inhaftierte Kämpfer sollte die Flucht ermöglicht werden. Dabei kamen 247 radikal-islamistische Militante ums Leben, und auch Zivilist*innen wurden getötet, während Dutzende teils schwer verletzt wurden. 45.000 Menschen flohen vor den rund eine Woche andauernden Kämpfen zwischen der SDF und Kämpfern des IS aus der Region. Auch im vergangenen Jahr gab es immer wieder Hinweise auf geplante Befreiungs- und Ausbruchaktionen von IS-Mitgliedern in verschiedenen Gefängnissen, sodass die Sicherheitskräfte immer wieder in höchste Alarmbereitschaft versetzt wurden. Sogar Schulen wurden zwischenzeitlich geschlossen, um die Sicherheit der Schüler*innen zu gewährleisten. 

Auch das al-Hol-Camp griff der IS bereits an. In dem Flüchtlingslager, das unter der Kontrolle der SDF steht, sitzen mehr als 60.000 Menschen fest – über 50.000 von ihnen haben direkte IS-Verbindungen, darunter sind auch einige Deutsche. Im November 2022 wurden Sicherheitskräfte im al-Hol-Camp von türkischen Drohnen beschossen. Einige Insassen konnten vorübergehend fliehen, wurden jedoch später wieder gefangen genommen. 

Mitte Januar wurde das al-Sinaa-Gefängnis erneut angegriffen. Dieses Mal jedoch nicht vom IS, sondern von der Türkei. Raketen schlugen ausgerechnet in den Hochsicherheitstrakt „Kalifat“ ein. 3.500 IS-Kämpfer sowie mehr als 700 Minderjährige – die sogenannten „Jungen des Kalifats“ – sitzen hier ein. Auch dieses Mal konnten die Sicherheitskräfte Schlimmeres verhindern und die Gefangenen daran hindern zu fliehen. Die Frage ist nur: Wie lange noch?   

Die kurdisch dominierte Selbstverwaltung, die einst an der Seite der USA gegen den IS kämpfte, sieht sich der Herausforderung der türkischen Invasion gegenüber. Dem Erstarken des IS hat sie kaum etwas entgegenzusetzen. Für die Terrorgruppe bedeutet der türkische Angriff auf die kurdische Selbstverwaltung eine willkommene Gelegenheit. Wo staatliche Autorität und Strukturen fehlen, findet der IS einen idealen Nährboden. Die schwerwiegenden und oft tödlichen Konsequenzen für die Bevölkerung in der Region sind unverkennbar.