Es scheint ein Albtraum: Mitten in der Krisenregion Nahost entsteht ein islamisches Staatengebilde, das Grenzen wegspült und die Region in einen Krieg radikaler Milizen verwickeln könnte. Dabei hat der Westen nicht so sehr Angst vor einer Neuordnung – sondern vor dem drohenden Zerfall.
Das „Ende von Sykes-Picot“ oder die „Kulmination des 1.400 Jahre alten sunnitisch-schiitischen Konfliktes“ – an großen historischen Referenzen mangelt es in der Berichterstattung über die derzeitigen Ereignisse im Nahen Osten nicht. Dahinter steht die Furcht, nicht so sehr vor einer Neuordnung des nahöstlichen Staatensystems – sondern vor ihrem Zerfall.
Neues Konstrukt geschaffen
Insbesondere angesichts der jüngsten Entwicklungen im Irak wird diskutiert, ob der Siegeszug der islamistischen ISIS-Kämpfer ein Zeichen dessen ist, dass historische Kräfte koloniale Grenzen hinweg spülen. Dabei ist allein schon der Name des von ISIS proklamierten Kalifatsstaates ein Hinweis darauf, dass es nicht um die Wiederbelebung einer einstmals existierenden territorialen Einheit geht: „Islamischer Staat in Syrien und Irak“ zeigt, dass es für das Gebiet keine historische Benennung gibt und mithin ein neues Konstrukt geschaffen würde.
Das ISIS-Vorgehen hat überdies selbst koloniale Züge: Wo immer ISIS die Macht übernimmt, sind es ausländische Kämpfer, die politische Schlüsselpositionen besetzen – nicht lokale Kräfte. Auch wenn das Gebiet derzeit eher die Form einer Kartoffel hat, wird es medienwirksamer gern als „sunnitischer Halbmond“ beschrieben, ein passendes Gegenstück zu dem mutmaßlich von Iran in Zusammenarbeit mit Baschar al-Assad und der libanesischen Hisbollah angestrebten „schiitischen Halbmond“. Auch wenn dabei strategische Interessen mitschwingen: Die konfessionelle Note steht im Vordergrund.
Doch die Lesart, es handele sich um einen historisch-religiös vorbestimmten Konflikt, ist in mehrerlei Hinsicht problematisch. Der Westen distanziert sich damit von der eigenen Verantwortung, redet die der politischen Eliten im Nahen Osten klein, oder überhöht gar die integrierende Funktion von Tyrannen wie den Assads. Es wirft die Frage auf, ob einem solch fundamentalen Konflikt mit politischen Mitteln überhaupt beizukommen ist. Und ein konfessionelles Verständnis entrückt den Konflikt auch der Lebenswelt einer westlichen Öffentlichkeit, in der sich nicht zuletzt deswegen wenige mit den Opfern solidarisieren.
Nicht das Aufbegehren der Sunniten
Dabei begann die syrische Revolution nicht als Aufbegehren sunnitischer Kräfte gegen einen als zu westlich gesehenen Regenten: Ihre Forderungen klangen ganz im Gegenteil nach dem Wertekanon westlicher Demokratien: Würde, Freiheit und ein Ende der Korruption. Statt eine politische Lösung für politische Fragen zu suchen, versuchte Assad die Revolution gewaltsam niederzuschlagen und heizte religiöse Ressentiments am.
Er schürte die Angst unter den Minderheiten – Angst davor, was ihnen im Falle seines Machtverlusts durch die Bevölkerungsmehrheit der Sunniten geschehen könnte, und Angst davor, wie er, solange er an der Macht ist, insbesondere Dissidenten aus ihren Reihen verfolgen würde. Indem er sich auf eine „Verschwörung aus dem Ausland“ berief, einen Angriff von Terroristen auf die Stabilität und Sicherheit Syriens, konnte er sich die Loyalität derer sichern, die er als Opfer darstellte.
Legitimität stärken
ISIS versucht derweil, mit religiös-geschichtlichen Referenzen ihre Legitimität zu stärken. Das ist nicht unüblich: Je brutaler Milizen vorgehen, desto mehr neigen sie dazu, sich auf höhere Ziele und Autoritäten zu berufen. Letztlich sind sich ISIS und das syrische Regime viel ähnlicher als man meinen könnte: Sie leben von Einschüchterung, spalten die Bevölkerung und kaufen sich Loyalität, indem sie politische und ökonomische Privilegien vergeben.
Gerade in dieser Hinsicht beschert die Einnahme Mossuls und die dabei gemachte Beute ISIS ungeahnte Möglichkeiten, Kämpfer zu rekrutieren. Wie brüchig solche Machtbasen sind – und wie wenig sie mit Ideologie zu tun haben – kann man wiederum am syrischen Raqqa beobachten. Die gleichen Stämme, die zu Beginn der Revolution als Assads verlängerter Arm lokale Proteste niederschlugen und Bashar al-Assad bei seiner Reise nach Raqqa im November 2011 die Treue schworen, versicherten zwei Jahre später in einer ähnlichen Veranstaltung ISIS ihrer Gefolgschaft.
ISIS kämpft im Wesentlichen gegen andere Rebellen. Statt gemeinsam mit ihnen den Kampf gegen das Regime zu führen, konzentrieren sie sich darauf, bis ins Detail das Verhalten der Bevölkerung zu kontrollieren. Assad vergilt es ihnen, indem er sie weitestgehend in Ruhe lässt.
Interessen der Akteure
Wer eine Antwort auf den Konflikt in Syrien und Irak finden will, muss sich mit den politischen und wirtschaftlichen Interessen der Akteure auseinandersetzen, statt es bei einem oberflächlichen Blick darauf zu belassen, wofür sie zu stehen scheinen. So wenig, wie ISIS aus Frömmigkeit handelt, ist Bashar al-Assad ein Vertreter westlicher Werte. Was die Schreckensherrschaft beider ermöglicht, sind lange Jahre einer Politik, die die Interessen der Bevölkerung vernachlässigt hat.
Assad verlässt sich derweil auf die gängige und von ihm aufs Kräftigste geförderte Wahrnehmung des Konfliktes: dass es eine Wahl zwischen ihm und den Extremisten sei, und er dabei besser dastehen wird. Wer die fortdauernde Vertreibung von Millionen Menschen im Nahen Osten und das Sterben von Hunderten jede Woche beenden will, wird dies nicht mit einem Schmalspurprogramm zur Bekämpfung von ISIS erreichen.
Zur Autorin
Bente Scheller ist promovierte Politikwissenschaftlerin und Expertin für Außen- und Sicherheitspolitik. Momentan leitet sie das MENA-Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Beirut. Zuvor war Scheller Leiterin des Büros der Böll-Stiftung in Afghanistan. Im Februar erschien ihr Buch „The Wisdom of Syria’s Waiting Game: Foreign Policy Under the Assads“ (Hurst).
Dieser Kommentar von Bente Scheller erschien am 29.06.2014 auf heute.de. Seit diesem Zeitraum hat sich die Gruppe ISIS in „Islamischer Staat“ umbenannt und ein weltweites Kalifat ausgerufen. In diesem Sinne appelliert IS verstärkt an Ausländer, sich dem Kampf in Syrien und Irak anzuschließen – eine Entwicklung, die für die SyrerInnen alles andere als verheißend ist.