Ein Jahr nach dem Ende des Assad-Regimes ist Syrien frei, aber nicht geeint. Die Aktivist*innen Safa Kamel, Alaa Almerie und Boulos Al-Hallaq sprechen über neue Machtkämpfe, zivilen Widerstand und den schwierigen Versuch, die Revolution in Demokratie zu überführen.

Krieg vorbei, Frieden vertagt

Ein Jahr nach dem Ende des Assad-Regimes ist Syrien frei, aber nicht geeint. Die Aktivist*innen Safa Kamel, Alaa Almerie und Boulos Al-Hallaq sprechen über neue Machtkämpfe, zivilen Widerstand und den schwierigen Versuch, die Revolution in Demokratie zu überführen.

Ein Jahr nach dem Ende des Assad-Regimes ist Syrien frei, aber nicht geeint. Die Aktivist*innen Safa Kamel, Alaa Almerie und Boulos Al-Hallaq sprechen über neue Machtkämpfe, zivilen Widerstand und den schwierigen Versuch, die Revolution in Demokratie zu überführen.
Safa Kamel stammt aus Jobar in Ost-Ghouta und wurde 2018 nach Afrin vertrieben. Dort leitet sie die Organisation KLYA, die Frauen politisch und wirtschaftlich stärkt und besonders ehemalige Gefangene des Assad-Regimes unterstützt. Seit dem Sturz des Regimes engagiert sie sich auch wieder in Jobar mit psychosozialer Hilfe, Bildungsarbeit und Projekten zum wirtschaftlichen Empowerment.
Boulos Al-Hallaq ist seit den 1990er-Jahren zivilgesellschaftlicher und revolutionärer Aktivist. Er engagierte sich in zahlreichen Initiativen, darunter das Sozialprojekt „Al-Ard“ der Jesuiten und die Syrian Citizenship League. Heute leitet er die Kulturorganisation Al-Nahda und gründete 2025 die Initiative Bidayetna mit dem Ziel zum Wiederaufbau eines demokratischen, gerechten und inklusiven Syriens beizutragen.
Alaa Almerie ist alawitische Aktivistin aus Homs. Seit über acht Jahren engagiert sie sich in der Zivilgesellschaft und gehört zu den Mitbegründerinnen der Organisation Seen for Civil Peace, die sich für gesellschaftlichen Zusammenhalt und zivile Konfliktlösung einsetzt.
 
(Auf Wunsch der Person veröffentlichen wir kein Foto.)

Ein Jahr nach dem Sturz des Assad-Regimes gibt es im ganzen Land immer wieder Gewaltausbrüche und konfessionell motivierte Gewalt. Die Sicherheitslage ist extrem schlecht. Gibt es noch Hoffnung auf ein friedliches Syrien?

Alaa Almerie: Ja, ich habe Hoffnung. Aber die Massaker in Suweida und an der Küste haben gezeigt: Ohne Gerechtigkeit* kein Frieden. Bis heute gibt es keine Ermittlungen, keine Anklagen, keine Prozesse. Täter bleiben frei, manche sitzen wieder in Ämtern. Wenn das so bleibt, droht neues Blutvergießen. Trotzdem glaube ich, dass sich Syrien erholen kann. Die Mehrheit der Menschen will Frieden, nicht Rache.

(*Mit „Gerechtigkeit“ meint Alaa Almerie sowohl die Aufarbeitung der Verbrechen unter dem Assad-Regime als auch der Gewalttaten nach dessen Sturz.)

Safa Kamel: Wie der Schriftsteller Saadallah Wannous einst sagte: Wir sind zum Hoffen verurteilt. Aufgeben ist keine Option, auch wenn wir erschöpft sind. Viele glauben, die Revolution habe gesiegt, weil Assad weg ist, die Gefangenen befreit und es wieder Dollar, Handel und Autos gibt. Aber das ist nur Fassade. Hinter der neuen religiösen Macht entstehen neue Formen von Unterdrückung und die konfessionellen Spaltungen vertiefen sich. Natürlich gibt es Übergangsphasen, in denen nicht alles ideal läuft. Aber wir müssen aufhören, Verbrechen als „Zwischenfälle“ zu verharmlosen. Jede ungestrafte Tat ist ein Rückschritt.

Boulos Al-Hallaq: Ich stimme zu, wir erleben eine zunehmende konfessionelle Spaltung. Die Übergangsregierung hat diese gezielt verschärft. Das wurde besonders nach dem Massaker in Suweida sichtbar. Der Staat setzt auf Kontrolle statt Dialog. Das vertieft die Gräben, die Syrien zerreißen.

Welche Handlungsmöglichkeiten hat die Zivilgesellschaft angesichts dieser Realität?

Al-Hallaq: Wir bleiben unseren Grundsätzen treu und führen unsere Arbeit für zivilen Frieden, Übergangsjustiz, Dialog und Empowerment fort. Unsere Prioritäten haben sich aber verschoben: Heute geht es vor allem darum, Allianzen zu bilden und Netzwerke zu stärken, um gemeinsam gegen neue autoritäre Tendenzen und freiheitsfeindliche Gesetze zu wirken. Der Handlungsraum wird wieder enger, deshalb müssen wir unsere Methoden anpassen, aber wir werden nicht weichen.

Almerie: Auch wir arbeiten eng mit anderen Initiativen zusammen. Direkt nach dem Regimesturz haben wir eine Chatgruppe gegründet, in der Aktivist*innen, lokale Behörden und Sicherheitskräfte Informationen austauschen können. Wenn eine Gefahr gemeldet wird, reagieren alle sofort. Nach der Ermordung einer Lehrerin konnten wir durch Vermittlung Panik verhindern. Solche Kooperationen schaffen Vertrauen. Wenn Menschen sich schutzlos fühlen, greifen sie irgendwann selbst zur Waffe. Das dürfen wir nicht zulassen.

Kamel: Ich bin keine Idealistin, aber ich glaube an Veränderung. Wir arbeiten mit der Kommission für Übergangsjustiz zusammen, fordern unabhängige Ermittlungen ein und dokumentieren Zeugenaussagen. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten finden offizielle Anhörungen statt. Das ist kein Sieg, aber ein Anfang.

Wie hat sich die Lage der Minderheiten seit dem Regimesturz verändert?


Almerie: Es gibt eine Spaltung, die weniger in der Gesellschaft als im politischen Kalkül liegt. Wenn die Regierung von „nationalem Frieden“ spricht, meint sie nur das Verhältnis der Religionsgemeinschaften, nicht die sozialen Brüche. Heute verlaufen die Konflikte längst auch zwischen denen, die am alten System festhalten, und denen, die Veränderung wollen. In den Medien werden Aktivist*innen oft über ihre Religion beschrieben: „der christliche Aktivist“ oder „die alawitische Menschenrechtlerin“. Damit werden künstliche Trennungen aufgemacht, anstatt eine Einheit zu fördern. Syrien braucht Bürgerrechte, statt einer Kultur religiöser Zugehörigkeit. Nur so können die Wunden heilen.


Kamel: Ich stimme zu. Die Spaltung wird auch von außen befeuert. Internationale Delegationen fragen zuerst nach einzelnen Minderheiten, aber kaum nach den Gefangenen oder Vertriebenen. Schon das alte Regime hat Minderheiten gegeneinander ausgespielt und jetzt beginnt dieses Spiel von vorn. Wenn wir das zulassen, verlieren wir unsere gemeinsame Zukunft.

Nach dem Sturz des Assad-Regimes hofften viele Frauen auf mehr Mitbestimmung. Wie fällt euer Fazit nach einem Jahr aus? Gibt es ein neues Kapitel für Frauenrechte?

Almerie: Faktisch bleiben Frauen in Politik und Gesellschaft marginalisiert, ihre Freiheiten werden zunehmend eingeschränkt. Nach der Wahl sind nur drei Prozent der Abgeordneten Frauen. Die einzige Ministerin wird gefeiert, weil sie Christin ist, als Beweis vermeintlicher Vielfalt. Aber das ist Symbolpolitik, keine Gleichberechtigung. Tatsächlich stammen die meisten Abgeordneten aus konservativen Kreisen, die Frauen auf Familie und Haushalt reduzieren. Führungspositionen gelten wieder als Männersache, Frauen erhalten kaum Genehmigungen für politische Veranstaltungen und gelten schnell als „überfordert“. Unter Assad lebten wir in Angst, heute erleben wir neue Kontrolle, diesmal im Namen von Religion und Moral.

Kamel: Wir sind enttäuscht. Schon die Ernennung der Leiterin des Frauenbüros war ein Feigenblatt: Eine Frau ohne Einfluss, nur zur Zierde. Viele Frauenbüros existieren nur auf dem Papier. Noch immer sehen viele Entscheidungsträger Frauen nicht als Partnerinnen, sondern als Dekoration. Wir brauchen eine zweite Revolution: gegen die patriarchalen Strukturen, die überlebt haben.

Was tut ihr, um Frauen zu stärken?


Almerie: Wir bringen Frauen aus ganz Syrien zusammen, um ihre Erfahrungen aus vierzehn Jahren Krieg und Revolution festzuhalten. Das Erzählen ihrer Geschichten ist ein Akt der Selbstermächtigung. Viele Frauen haben in dieser Zeit Verantwortung übernommen, als Alleinversorgerinnen und Organisatorinnen. Wir machen ihre Stärke sichtbar und achten bei allen Veranstaltungen auf Parität. Veränderung beginnt dort, wo Frauen sich gegenseitig stärken. Dafür schaffen wir die Räume.


Kamel: Unsere Strategie ist, Frauen politisch und wirtschaftlich zu stärken. Wir bieten Workshops und politische Bildung an, unterstützen Frauen auf dem Weg in lokale Räte oder ins Parlament. Eine unserer Teilnehmerinnen wurde tatsächlich gewählt, ein kleines, aber starkes Signal. Oft hören wir: „Warum reden die über Politik, sollen sie sich nicht um ihre Kinder kümmern?“ Genau deshalb ist unsere Arbeit so wichtig. Wir bekämpfen nicht Religion, sondern patriarchale Traditionen, die sie missbrauchen. Viele gläubige Männer unterstützen uns, wenn sie verstehen, dass Gleichberechtigung kein Angriff, sondern eine Bereicherung ist.

Was erwartet Rückkehrende?

Al-Hallaq: Rückkehrende treffen auf ein Land, das noch lange nicht bereit ist, sie aufzunehmen. Viele kehren aus den direkten Nachbarländern aus purer Verzweiflung zurück. Wer Geld hat, repariert notdürftig sein Haus, die meisten leben in Zelten zwischen Ruinen. Die Wirtschaft liegt am Boden, es gibt keine nachhaltige Politik. Reiche werden reicher, Arme verzweifeln. Ohne ein Programm zum Wiederaufbau bietet das Land weder Arbeit noch Sicherheit, viele verlieren das bisschen Stabilität, das sie sich im Ausland aufgebaut hatten. Frauen, die im Exil Selbstständigkeit gewonnen haben, geraten zurück in patriarchale Strukturen. Neue religiöse Vorschriften engen sie weiter ein. Wenn diese Stärke verloren geht, verliert Syrien seine wichtigste Errungenschaft.


Kamel: Auch bei den Binnenvertriebenen konnten nur wenige bisher dauerhaft zurückkehren. Viele sind in die Camps zurückgekommen, weil ihre Dörfer zerstört, ihre Häuser unbewohnbar sind. Es fehlt an Wasser, Strom, Schulen und Sicherheit. Besonders für Frauen ist es schwierig, ihr Zuhause wieder auszubauen. Sie tragen aber die Hauptlast, weil ihre Männer tot oder vermisst sind. Wir bieten rechtliche Beratung, Ausbildung und psychologische Hilfe. Doch ohne funktionierende staatliche Strukturen bleibt das Leben in den Camps für viele die einzige, wenn auch unwürdige Lebensoption.

Wie stellst du dir Syrien in zehn Jahren vor?


Al-Hallaq: Ich träume von einem demokratischen Syrien, in dem alle Gruppen gleichberechtigt leben können. Doch realistisch gesehen steuert das Land auf ein autoritär-islamisch geprägtes System zu. Wir werden aber nicht tatenlos zusehen. Ich glaube fest, dass die Zivilgesellschaft eine entscheidende Rolle spielen kann, um dem entgegenzuwirken.

Kamel: Ich denke an die Kinder, die nie Frieden erlebt haben. Ich wünsche mir ein Land, das sie schützt statt verletzt, in dem das Gesetz stärker ist als jede Waffe. Frauen sollen selbstverständlich führen, Bildung soll befreien, nicht gehorsam machen. Syrien soll wieder für Leben, Kultur und Würde stehen.

Almerie: Ich hoffe auf ein Syrien, in dem der Staat den Menschen dient, nicht umgekehrt. Ein Land, das stolz auf seine Vielfalt ist und Gerechtigkeit als Grundlage des Friedens versteht. Vielleicht kennt die nächste Generation das Wort Krieg nur noch aus Erzählungen. Der Weg dorthin ist schwer, aber wir haben das Wichtigste geschafft: Wir haben unsere Angst verloren.

Welche Unterstützung braucht ihr derzeit am dringendsten?

Al-Hallaq: Wir brauchen derzeit vor allem Unterstützung, um uns als Organisation zu festigen – finanziell, aber auch strukturell. Es geht um den Aufbau stabiler Strukturen und transparenter Organisationsführung. Kurz gesagt: Wir brauchen Partner*innen, die uns beim Wachsen begleiten, ohne uns die Richtung vorzugeben.

Kamel: Das Wichtigste ist, dass wir nicht allein gelassen werden. Wir brauchen Partner*innen, die zuhören und bleiben. Wir brauchen keine Almosen, sondern langfristige finanzielle Unterstützung, die Strukturen schafft und Vertrauen stärkt. Und wir brauchen Schutz für alle, die ihre Stimme erheben. Freiheit zählt nur, wenn man sie überlebt.

Almerie: Ich stimme Safa zu. Syrien ist kein Projektland, wir sind Menschen, die seit Jahren für ihre Zukunft kämpfen. Wir brauchen politische und finanzielle Unterstützung. Die Welt muss hinhören, wenn wir über Gerechtigkeit sprechen. Schweigen hilft niemandem. Echte Unterstützung heißt Vertrauen in Veränderung. Was wir jetzt am meisten brauchen, ist, dass die Welt an uns glaubt.

Danke euch dreien für eure Offenheit, eure Ausdauer und euren Mut. Was ihr sagt, zeigt, dass Hoffnung in Syrien nicht nur ein Wort ist, sondern tägliche Arbeit. Ihr erinnert uns daran, dass Solidarität nicht endet, wenn die Schlagzeilen verschwinden.