Skultpru
Polit-Kitsch oder würdiges Gedenken? Gerechtigkeit für die Opfer gibt es nicht, sie sollen sich offenbar mit diesem Denkmal von Nadim Karam zufriedengeben. Foto: L. Hussein

Libanon: Die Katastrophe ist nicht vorbei

Heute vor einem Jahr explodierten im Hafen von Beirut 2750 Tonnen Ammoniumnitrat. Rund 200 Menschen wurden getötet, Tausende verletzt, große Teile der Stadt verwüstet. Unsere Partner*innen aus dem Libanon berichten über ihr Jahr nach der Katastrophe, über die weiterhin schreckliche Lage, über das, was ihnen trotzdem Hoffnung macht und warum sie dringend Unterstützung brauchen.

Skultpru
Polit-Kitsch oder würdiges Gedenken? Gerechtigkeit für die Opfer gibt es nicht, sie sollen sich offenbar mit diesem Denkmal von Nadim Karam zufriedengeben. Foto: L. Hussein

Wäre die Explosion vom 4. August 2020 im Hafen von Beirut nur ein schrecklicher Unfall gewesen, wären die meisten Schäden behoben, der Wiederaufbau des Hafens wäre in vollem Gange, die Verantwortlichen stünden vor Gericht, die Betroffenen wären – soweit möglich – entschädigt.

All das ist nicht der Fall – weil die Explosion kein tragischer Unfall war, sondern Gipfel jahrelangen Staatsversagens, skrupelloser Korruption, mafiös geprägter Parteien und organisierter Verantwortungslosigkeit. Der libanesische Staat ist vom libanesischen Establishment derart ausgeplündert, dass er – außer Repressionen – für seine Bürger*innen nichts mehr leistet.

Für viele Menschen im Libanon sind spendenfinanzierte zivilgesellschaftliche Initiativen die einzige Chance, Unterstützung zu erhalten. Seit der Explosion unterstützt Adopt a Revolution daher zwei zivile Initiativen im Libanon: 
Das »Café Riwaq«, das als wichtiger Treffpunkt ziviler Aktivist*innen für Vernetzung sorgt und mit einer “Küche vor Alle” Nothilfe für marginalisierte Gruppen anbietet. Und das Projekt »Syrian Eyes«, eine selbstorganisierte Initiative, die Lebensmittel und medizinische Hilfe für notleidende syrische Geflüchtete, Libanes*innen und Migrant*innen organisiert.

Rehab*, Aktivistin der Initiative »Syrian Eyes« berichtet

„Wir haben nach der Explosion vor allem Lebensmittel verteilt und medizinische Versorgung für Verletzte und Kranke finanziert (Anm. d.R.: im Libanon gibt es so gut wie kein staatliches Gesundheitssystem). Auch haben wir Mieten für Menschen bezahlt, die sonst obdachlos geworden wären. Wir waren in einer Art Überlebensmodus und haben bis zur Erschöpfung gearbeitet, um möglichst vielen Menschen helfen zu können.

Jeden einzelnen Monat wird das Leben schwieriger im Libanon.

Rehab, Syrian Eyes

Im Spätherbst und Winter haben wir gemerkt, wie erschöpft unser ganzes Team war und dass wir vergessen hatten, uns um uns selbst zu kümmern. Es hat sich ja die ganze Zeit über nichts verbessert: Es gibt jeden Tag nur wenige Stunden Strom, sämtliche Kosten sind gestiegen. Jeden einzelnen Monat wird das Leben schwieriger im Libanon.

Viele der Menschen, die wir mit unserer Arbeit unterstützen sind Syrer*innen, deren Situation schon vor Explosion, vor der Finanz- und Regierungskrise extrem prekär gewesen ist. Die Situation ist aktuell extrem angespannt – nicht nur aufgrund der verfahrenen Regierungskrise, sondern auch wegen der extremen Währungskrise: Die Wechselkurse schwanken stündlich. Wir müssen immer überlegen, wann wir Geld wechseln, das ist anstrengend und ja, einfach beschissen.

Aktivist*innen der Syrian Eyes bei der Vorbereitung von Hilfspaketen

Zum Jahrestag der Explosion kommen bei Vielen auch schreckliche Erinnerungen hoch, vielen Menschen sind sehr starke Bilder im Kopf hängen geblieben. Wir alle mussten uns auch Zeit nehmen, das alles zu verarbeiten. 

Gleichzeitig wurde bisher niemand wirklich zur Verantwortung gezogen. Die politischen Eliten sind wie immer mit Machtkämpfen beschäftigt und blockieren seit der Explosion die Bildung einer neuen Regierung. Selbst die Untersuchungen zur Explosion werden endlos verschleppt. 

Immerhin im Bereich der zivilen Grassroots-Bewegung macht mir Manches Hoffnung, etwa dass wir weiter unsere Netzwerke haben, dass wir mit unserer Hilfe Menschen erreichen, die uns wirklich brauchen, dass wir ein Team sind, in dem wir uns gegenseitig unterstützen, und dass wir Spender*innen haben, die uns solidarisch beistehen und uns ermöglichen, trotz der gestiegenen Kosten weiter Hilfe zu leisten. Dafür bin ich dankbar.

Unsere Bitte: Helfen Sie mit einer Spende, damit unsere Partner*innen weiter arbeiten können!

Ferran, Gründungsmitglied des »Cafe Riwaq« berichtet

„Ein Jahr nach der Explosion ist die Situation immer noch katastrophal. Viele haben das Gefühl, dass es auch nie besser wird. Es gibt so viele Faktoren dafür: Die Pandemie, die Wirtschaftskrise, die Regierungskrise…

Die politischen Parteien und das korrupte System erfüllen mich mit Wut und Ekel.

Ferran, Café Riwaq

Alle Politiker hier haben Blut an den Händen. Die Verantwortlichen für die Explosion wurden nicht zur Verantwortung gezogen. Die politischen Parteien und das korrupte System erfüllen mich mit Wut und Ekel. 

Die Menschen hier sind frustriert, ja depressiv, und wer das Privileg hat, gehen zu können, der geht. Wer bleibt, hat keine Wahl als von Tag zu Tag zu leben. Es macht keinen Sinn mehr auch nur eine Woche vorauszudenken. So kann man kein selbstbestimmtes Leben führen.

»Küche für Alle« im Café Riwaq

Auch bei uns im Café Riwaq gibt es jeden Tag Probleme: Entweder gibt es keinen Strom, kein Internet, kein Wasser oder irgend etwas anderes. Das ist sehr anstrengend. 

Aber was mir Hoffnung gibt ist, dass das Café Riwaq trotzdem genau das leistet, was es leisten soll: Es ist ein „community-based place“, ein Ort, der von den Menschen lebt, die dorthin kommen, ein Ort der Gemeinschaft. Es gibt uns allen unheimlich viel Kraft, dass man hierher kommen, sich mit andere Aktivist*innen austauschen kann und so mit der ganzen schrecklichen Situation nicht alleine bleibt. 

Bitte unterstützen Sie die Arbeit unserer Partner*innen im Libanon mit einer Spende!

Kampf um Gerechtigkeit

Die libanesische Regierung – bzw. das, was davon aktuell übrig ist – ist vor allem damit beschäftigt, sich selbst schadlos zu halten und dafür zu sorgen, dass die Hintergründe der Explosion im Dunkeln bleiben. An die Stelle der Suche nach Gerechtigkeit tritt Erinnerungskitsch. So hat etwa der Architekt Nadel Karam im Hafen mit Unterstützung der Behörden eine Statue aus Schrott errichtet, die das Leid der Opfer darstellen soll. Während manche Menschen das Denkmal begrüßen, kritisieren andere es scharf als Versuch der Regierung, von ihrer Verantwortung für die Katastrophe und die katastrophale Situation im Land abzulenken.

Bislang gibt es etwa kaum staatliche Unterstützung für die rund tausend Menschen, die durch die Explosion Behinderungen und andere bleibende körperliche Schäden davongetragen haben. Medizinische Versorgung ist für viele Menschen im Libanon unbezahlbar, viele Opfer können sich daher keine angemessene Behandlung leisten. Zum Jahrestag treffen sich daher viele Opfer zum Protest:

Ermittelt endlich die wahren Verantwortlichen!

Vielfach wird die Forderung laut, die Immunität von beschuldigten Politiker*innen aufzuheben, damit gegen sie ermittelt werden kann. Bislang tun die politischen Eliten alles, um die Ermittlungen zu blockieren.

Unter anderem gibt es den Verdacht, dass das Ammoniumnitrat für das Assad-Regime eingelagert wurde, das diese Substanz in seinen Fassbomben nutzte. In diese Richtung ermittelte der Filmemacher und bekannte Intellektuelle Lokman Slim. Dann wurde er am 3. Februar 2021 im Süden des Libanon in seinem Auto erschossen, vermutlich von der Hizbollah, die den Hafen kontrolliert und mit dem Assad-Regime verbündet ist. Lokman Slims hinterbliebene Ehefrau Monika Borgmann erinnert immer wieder an ihren Mann – und seine Recherchen, wegen der er wohl getötet wurde:

Durch unsere spendenfinanzierte Unterstützung des »Café Riwaq« und der Initiative »Syrian Eyes« fördern wir die Selbsthilfe marginalisierter Communities und zugleich politischen Aktivismus. So ausweglos die politische Lage im Libanon derzeit erscheint, ist Fatalismus keine Option. Unterstützen Sie diese emanzipatorischen Projekte mit Ihrer Spende – vielen Dank!