Meine Träume und der Krieg

Die junge Bildungsaktivistin Eman al-Tayr berichtete für uns aus Ost-Ghouta. Sie überlebte die Hölle der Belagerung und des Bombenterrors und wurde wie so viele andere nach Nordsyrien vertrieben. Ein persönlicher Rückblick auf sieben Jahren im Ausnahmezustand.

Die Krankheit meiner Tochter Natalie, die noch nicht mal ein Jahr alt ist, hat sich weiter verschlimmert. Deshalb war ich dazu gezwungen, sie ins Nachbardorf zu bringen. Dort gibt es das einzige medizinische Zentrum hier in der Gegend. Vor Ort bat mich die Frau am Empfang, einen Fragebogen mit Natalies persönlichen Daten auszufüllen. Am Ende schrieb ich auf die unterste Zeile: „Natalie, Flüchtling aus Ost-Ghouta“.

Seit meiner Kindheit hatte ich davon geträumt, eines Tages an der Kunsthochschule zu studieren. Als ich schließlich in das Alter kam, in der man mit dem Studium beginnt, fand ich schnell heraus, dass in meinem Land nur diejenigen die Aufnahmeprüfung bestehen, die entweder über gute Kontakte zu einem Mitarbeiter in den staatlichen Behörden verfügen oder deren Familien selbst eine hohe gesellschaftliche Stellung innehaben. Letztendlich begann ich Anglistik zu studieren, denn der geisteswissenschaftliche Bereich wird von unserer Gesellschaft als am angemessensten für Mädchen angesehen.

Die Träume und Ambitionen junger Menschen, im Keim erstickt

Zu Beginn meines Studiums begannen die friedlichen Proteste und Demonstrationen in Damaskus und ganz Syrien. Sie richteten sich genau gegen das, was ich eben erlebt hatte: Eine Gesellschaft, in der alle Ambitionen, Hoffnungen und Träume von jungen Frauen und Männern wie mir, ständig im Keim erstickt wurden.

Ich begann, bei der Organisation von Demonstrationen und beim Gestalten von Plakaten und Bannern zu helfen. Das alles musste im Geheimen passieren, aus Angst davor, dem Regime in die Hände zu fallen. Nachdem große Teile von Ost-Ghouta befreit worden waren, begann ich der Revolution noch auf einem anderen Weg zu helfen: Die Menschen in Ost-Ghouta wurden durch die Checkpoints an der Einfuhr dringend benötigter Lebensmittel und Medikamente gehindert. Ich nahm also Kontakt zu FreundInnen auf, die als AktivistInnen in Ost-Ghouta lebten. Da ich selbst noch in Damaskus lebte, konnte ich ihnen dabei helfen, den Schmuggel von Lebensmitteln und Medikamenten nach Ost-Ghouta zu organisieren. Dabei spielte ich als Frau eine zentrale Rolle, denn Frauen wurden vom Regime anfänglich noch weniger streng kontrolliert als junge Männer.

Nach einer Zeit begannen die Drohungen durch das Regime zuzunehmen, mehr als einmal entkam ich nur knapp einer Verhaftung. Die Überwachung, Bedrohung und Verfolgung durch das Regime wurde lebensgefährlich und immer engmaschiger. Dann wurde mein großer Bruder von einem der Panzer des Regimes erschossen.

Durch die Tunnel

Ich beschloss, mein Studium abzubrechen, in dem ich nie meine Bestimmung gesehen hatte, und Damaskus zu verlassen – eine Stadt, in der ich keine Arbeit finden konnte, die meinen Träumen und Zielen entsprach. Ich entschied mich, endgültig in die befreiten Gebiete Ost-Ghoutas überzusiedeln.

Ich informierte also meine Freunde und meine Familie über meine Entscheidung. Nach Ost-Ghouta gelangte ich über einen Tunnel, der diese mit den Regime-Gebieten verband und zum Schmuggel genutzt wurde. Ich werde diesen Tag und die Gefühle, die ich auf meinem Weg nach Ost-Ghouta hatte, niemals vergessen. Der Tunnel war klein und eng, eine Person passte gerade so hindurch. Es war dunkel und die Luft war so stickig, dass es schwerfiel, zu atmen. Ich fühlte mich im Tunnel einsam. Ich war besorgt und glücklich gleichzeitig, ängstlich, aber auch voller Zuversicht, dass die Ost-Ghouta der Ort sein würde, der Raum bieten würde für die Verwirklichung meiner Träume und Bestrebungen. Gleichzeitig hatte ich Angst vor dem Ungewissen und der Zukunft, die mich dort erwarten würde.

Eman beim Unterrichten

In Ost-Ghouta konnte ich dann zum allerersten Mal in meinem Leben mit anderen AktivistInnen gemeinsam Projekte und Aktivitäten organisieren, ohne dafür eine Erlaubnis von der Regierung erfragen oder erkaufen zu müssen. Unsere Gruppe bestand aus mehreren jungen Frauen und Männern – alle mit ganz unterschiedlichen Talenten, Fähigkeiten und Ideen, die jedoch vor der Revolution gelähmt und auf Eis gelegt worden waren. Jetzt konnten und durften wir endlich frei Initiative ergreifen, um unsere Gesellschaft zu verbessern.

Streiten für Frauenrechte

Ich baute gemeinsam mit anderen Frauen eine Initiative auf, die sich ausschließlich Themen widmete, die uns Frauen betreffen und die zum Ziel hatte, die Frauen aus der gesellschaftlichen Isolation und Marginalisierung zu befreien, in die sie durch die patriarchale Macho-Gesellschaft in Syrien vielerorts gedrängt worden waren. Wir organisierten einerseits Kurse, die Frauen ermöglichten, selbst zu arbeiten und ein Einkommen zu generieren – so zum Beispiel Näh-, Informatik- oder Krankenpflegekurse. Zusätzlich dazu veranstalteten wir aber auch Vorträge und Diskussionsrunden zu verschiedene Problemen, denen Frauen in unserer Gesellschaft gegenüberstehen, wie beispielsweise Kinderehen, Zwangsverheiratung, sexuelle Belästigung und die vielen psychischen Probleme, die die Kinder aufgrund der Kriegssituation haben und mit denen die Mütter oft alleingelassen werden. Ich persönlich hatte den Traum, dass jede Frau in meinem Land sie selbst sein kann und mit lauter Stimme und erhobenen Hauptes ihre Rechte einfordert und gleichzeitig ihre Pflichten als Bürgerin erfüllt.

Ich unterrichtete auch an Schulen und konnte so zu einem gesellschaftlichen Wandel beitragen, indem ich den Kindern Werte wie Demokratie und Freiheit nahebrachte. Und ich konnte mich selbst und meine künstlerischen Fähigkeiten weiterentwickeln. Ich lernte, mit Design- und Grafikprogrammen umzugehen und entwarf Broschüren und Flyer für die AktivistInnengruppe, die Aufklärungskampagnen in Schulen, Kindergärten und Bildungszentren durchführte und versuchte, mehr Bewusstsein für bestimmte Themen zu schaffen, so zum Beispiel über Gefahrenquellen für Kinder im Krieg: Blindgänger, Sprengfallen, Geschossüberreste.

Letztlich entschieden Assad und seine Gehilfen, unsere Träume und Ambitionen vollständig zu eliminieren. Nach Jahren der Belagerung und des Bombardements begann zu Beginn des Jahres 2018 ihre finale militärische Kampagne gegen Ost-Ghouta, um das Licht der Revolution neben Damaskus endgültig auszulöschen.

Die Machtlosigkeit im Angesicht der Brutalität

Diese Tage und Wochen können nicht in einigen Zeilen beschrieben werden. Allein der Horror und die Angst hätten ausgereicht, um jemanden zu töten, ohne dass ihn eine Bombe oder Kugel trifft. Die Schreie der Frauen und Männer, das Weinen der Kinder habe ich immer noch nicht aus meinem Kopf bekommen. Während der Angriffe auf Ost-Ghouta habe ich meinen zweiten Bruder verloren. Er half anderen Verletzten, leistete Erste Hilfe und versuchte Menschen unter den Trümmern zu befreien – und wurde dabei selbst Opfer einer Bombe des Regimes. Meine noch nicht einmal einjährigen Tochter Natalie wurde das grundlegendste Recht auf Nahrung verwehrt. Doch wir alle waren machtlos im Angesicht des Wahnsinns und Brutalität des Assad-Regimes.

Eman berichtet aus Ost-Ghouta. Das ganze Video sehen Sie hier:
https://adoptrevolution.org/stimmen-aus-ghouta/

Diese leidvolle Periode endete für uns damit, dass uns die Nachricht erreichte, dass unserer als Evakuierung deklarierten Vertreibung in den Verhandlungen zugestimmt worden war. Die Freude auf den meisten Gesichtern der Kinder, Frauen und Männer war groß – hieß das doch, dass es bald endlich keine Bombardierungen, keine Schreie, Fassbomben, Toten mehr geben würde. Für mich jedoch überwog die Traurigkeit. Die Traurigkeit darüber, dass ich nun den Ort, das Stück Erde verlassen sollte, welches ich aufgesucht hatte, um dort meine Träume zu verwirklichen und das mir Schutz geboten hatte vor der Gewalt des Regimes. Ich kann die Gefühle nicht beschreiben, die mich überkamen, als ich an der Tür des Busses ankam, der uns in den Norden bringen sollte. Es fühlte sich an, als würde mir das Herz aus der Brust springen.

Ich fliehe jetzt wieder durch einen dunklen, engen und freudlosen Tunnel. Ich lasse erneut meine Freunde hinter mir, meine zwei toten Brüder, meine Mutter, meinen Vater und mein Ost-Ghouta. Dieses Mal ist die Vertreibung ohne Aussicht auf Wiederkehr der dunkle Tunnel.

Meine Träume sind nicht tot

Mein Name und der Name meines Mannes und meines Kindes wird nun „Flüchtling“ lauten. Flüchtling im eigenen Land, ich werde eine Fremde sein an jedem Ort, wo ich auch hingehe. Und ich werde diesen Moment nicht vergessen, in dem mir all das zum ersten Mal nach unserer Vertreibung bewusst wurde: Als meine Tochter am Empfang des Krankenhauses als „Flüchtling aus Ost-Ghouta“ registriert wurde.

Trotzdem, von hier, aus Idlib, schreibe ich: Meine Träume und Ziele sind nicht tot. Ich habe grade erst mit ihrer Verwirklichung angefangen, stehe erst am Anfang des Weges. Ich werde weiter studieren, ich werde weiter Kunst machen. Und ich werde weiter dazu beitragen, dass sich die Gesellschaft zum Besseren verändert.

Ich habe Vertrauen, dass wir eine wunderbare Zukunft vor uns haben. Und auch unser Land wird eine helle Zukunft haben, sobald die Tage der Tyrannen gezählt sind.

Wie die Aktivistin Eman wurden zahlreiche weitere unserer ProjektpartnerInnen aus Ost-Ghouta vertrieben. Einige von ihnen arbeiten in anderen Teilen Syriens bereits daran, neue zivile Projekte aufzubauen. Helfen Sie mit, stärken Sie die syrische Zivilgesellschaft mit Ihrer Spende!

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