Straßenszene in Douma, Ost-Ghouta im April 2016. Foto: Sam Lenses

Menschen-rechtsarbeit unter Bomben und Belagerung

Woher nehmen Menschen die Kraft, um Bildungsprojekte, Medienworkshops oder Gesprächskreise zu organisieren – obwohl sie unter Bombardements und Belagerung leben? Woher kommt das Interesse, an solchen Angeboten teilzunehmen? Dass inmitten des Kriegs zivilgesellschaftliche Strukturen entstehen, überrascht. Aber nur auf den ersten Blick.

Straßenszene in Douma, Ost-Ghouta im April 2016. Foto: Sam Lenses

Sobald ein Angriff beginnt, schnappe ich mir meine Familie und bringe sie in den Keller oder einen Bunker«, beschreibt Hassan aus Talbiseh die Abläufe. »Dann springe ich auf das Motorrad und fahre dorthin, wo die Geschosse eingeschlagen sind. Als Medienaktivist dokumentiere ich die Folgen. So konnten wir im Herbst 2015 auch die ersten russischen Luftangriffe in Syrien belegen – fernab der Front und hunderte Kilometer von der nächsten Stellung der IS-Dschihadisten entfernt.« Hassans Bilder gingen damals um die Welt.

Verbrechen dokumentieren

In der vom syrischen Regime abgeriegelten Stadt Talbiseh herrscht der Ausnahmezustand seit Jahren. »Assad – oder wir brennen das Land nieder«, lautet eine Parole der Assad-loyalen Truppen. Wie wörtlich dieser Slogan zu verstehen ist, bezeugen Leute wie Hassan Abu Noah. Da über die Situation in seiner Heimatstadt nur wenig berichtet wurde, begann er mit einigen Freunden, die Bombardierungen zu dokumentieren. Daraus entstand ein lokales Zentrum für Medienarbeit.

Der vorliegende Beitrag stammt aus der Broschüre “Diktatur. Krieg. Zivilgesellschaft”, die Sie bei uns bestellen können: info[ät]adoptrevolution.org
Dort veranstalten Hassan und seine KollegInnen mittlerweile Workshops, um andere BürgerjournalistInnen auszubilden: Vom Umgang mit der Kamera bis zur gemeinsamen Reflektion über Berichterstattung im Krieg. Nur wenige internationale JournalistInnen bereisen Syrien und die Zensoren des Regimes wachen streng darüber, was akkreditierte MedienvertreterInnen zu sehen und zu hören bekommen. Informationen aus belagerten Städten gelangen deshalb durch BürgerjournalistInnen nach draußen. Ihnen das Know-How für objektive, möglichst faktenstarke Berichterstattung zu vermitteln, ist wichtigstes Ziel des Zentrums. Denn ob ein Waffenstillstand in Syrien hält, wäre ohne belastbare Informationen lokaler Quellen kaum zu prüfen.

Fluchtursachen bekämpfen

Krieg ist für die MedienaktivistInnen in Talbiseh kein Hindernis für ihr Engagement. Im Gegenteil ist er ein zentraler Grund für ihren zivilgesellschaftlichen Einsatz. Ähnliches gilt auch für AktivistInnen in anderen Zivilen Zentren im ganzen Land. Die Stadt Atareb ist, wie Talbiseh, regelmäßig Ziel von Luftangriffen. Sie treffen ZivilistInnen und zivile Strukturen wie Märkte, Krankenhäuser und Hauptverkehrsadern.

»Die Marktgegend von Atareb, wo sich auch unser Büro befindet, war mehrfach Ziel der Angriffe«, beschreibt Mohammed, der Koordinator des Zivilen Zentrums Atareb, die Situation. »Wir arbeiten deshalb unter schwersten Bedingungen. Unsere Kurse und Workshops, mit denen wir junge Menschen davon abhalten, sich den Radikalen zuzuwenden, mussten wir schon mehrfach einstellen, um zunächst den Opfern zu helfen und Schäden zu beseitigen.«

»Es gibt keine einzige Schule, die noch in Betrieb ist. Drei der Schulen sind bombardiert worden« Mohammed, Ziviles Zentrum Atareb

Sein reguläres Programm kann das Zivile Zentrum Atareb aufgrund des Kriegs nicht immer durchziehen. Aber auch hier gilt, dass der Krieg die zivilgesellschaftliche Arbeit der AktivistInnen nicht nur behindert, sondern die Not der Zivilbevölkerung auch ein Antrieb ist: »Nachdem besonders viele Ärzte und medizinisches Personal ge o- hen sind, haben wir die Kampagne Kommt zurück und rettet uns! gestartet. Denn trotz der ständigen Angriffe, der Toten und Verletzten, muss das zivile Leben weitergehen«, sagt Mohammed.

Die AktivistInnen in Atareb können die Bombardements nicht stoppen, mildern jedoch die Folgen – und bekämpfen damit Fluchtursachen, etwa den Mangel an Ärzten und medizinisch geschultem Personal.

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Psychischen Druck mindern

»Kniet nieder oder hungert«, schreiben regimetreue Truppen häufig an ihren Kontrollpunkten an die Wände, wenn sie eine Ortschaft belagern. Nach UN-Angaben leben rund eine Million SyrerInnen in diesem Zustand, die AktivistInnen der Zentren in Erbin und Talbiseh bereits seit Jahren.

In abgeriegelten Gebieten gibt es meist keinen Strom und kein fließendes Wasser, es mangelt an Heizöl, Treibstoff und medizinischen Gütern. Dinge des täglichen Bedarfs sind unter Belagerung in der Regel mindestens fünfmal teurer, denn alle Waren müssen geschmuggelt werden, durch Tunnel oder über korrupte Soldaten. Dann muss an jedem Checkpoint Schmiergeld bezahlt werden, jeder Zwischenhändler will mitverdienen.

»Fließendes Wasser gibt es seit Jahren nicht mehr. Unser Wasser beziehen wir aus Brunnen. Laut unserer letzten Analyse sind 60 Prozent davon verseucht.« Abdulsattar Sharaf, Ziviles Zentrum Erbin

»Die Belagerung produziert einen Zustand psychischer Hemmung«, sagt Hassan aus Talbiseh. »Niemand spricht offen darüber, aber diese Form der Unterdrückung ist eine unheimliche Angelegenheit.« Dazu kommen Luftangriffe, Fass- bombenabwürfe, Raketenbeschuss. »Ständig wachen wir auf durch den Lärm der Angriffe oder weil es wieder Bombenalarm gibt. Der ständige Schlafmangel und die Unterbrechungen mitten in der Nacht machen uns mürbe.«

“Russland tötet uns” – Schon seit Beginn der russischen Intervention in Syrien wird Talbiseh immer wieder Ziel von russischen Luftangriffen. Foto: CSC Talbiseh

Die Zukunft nicht aufgeben

»Bei jedem Flugzeug, bei jedem Schuss und manchmal selbst dann, wenn ein Moped vorbeiknattert, geraten die Kinder in Panik«, sagt Abdulsattar aus Erbin. Das dortige Zivile Zentrum steht in enger Verbindung mit den vom Komitee Erbin organisierten Kellerschulen. Es bietet etwa Nachhilfe für benachteiligte Kinder und Jugendliche an – alles unter der Erde. »Wenn Kinder im Keller unterrichtet werden, lernen sie besser. Sie bringen bessere Leistungen als diejenigen, die über der Erde zur Schule gehen«, sagt Abdulsattar.

Weil es selten Strom gibt wird wieder mehr gelesen: Die Bibliothek des Zivilen Zentrums Erbin. Foto: CSC Erbin

Zum Zentrum in Erbin gehört auch eine Bibliothek. Sie bietet nicht nur einen Raum zum Lesen und Lernen, sondern auch einen »Freiraum« vom Krieg. Denn nach Jahren reicht es nicht, wenn das Leben weitergeht, die Menschen benötigen auch Zukunftsperspektiven. Fast alle Zivilen Zentren in Syrien haben Bildungsprogramme im Angebot: Computer- oder Sprachkurse, Workshops und Diskussionsrunden zu gesellschaftlichen Themen. Für Außenstehende ist oft zunächst nicht nachvollziehbar, warum sich Menschen in permanenter Lebensgefahr für Computerkurse interessieren. Aber Weiterbildung macht Hoffnung auf eine Zukunft, auf eine Zeit nach Krieg und Belagerung.

Kampf gegen Misstrauen und Vorurteile

Angst vor Explosionen gehört in Syrien selbst dort zum Alltag, wo keine Bomben fallen. Im kurdisch geprägten Qamishli begehen IS-Dschihadisten immer wieder schwere Terroranschläge – etwa im Juli 2016, als bei der Explosion eines LKW 75 Menschen ums Leben kamen. Auch das Mandela House, der interkulturelle Begegnungsraum, in dem Leyla Xelef arbeitet, wurde beschädigt. »Zwar haben wir binnen zwei Wochen alles repariert und die beschädigten Geräte ersetzt, aber das hat mich psychisch mitgenommen. Es bedrückt mich jedes Mal, wenn ich daran zurückdenke. Dann habe ich wieder die Leichenteile im Kopf, die überall herumlagen.«

Leyla und ihre KollegInnen haben ihre Arbeit schon bald nach dem Anschlag wieder aufgenommen. »Wir werden vorerst damit Leben müssen, dass solche Anschläge pas- sieren können«, sagt sie. »Aber gera- de deswegen müssen wir weitermachen, müssen für die Betroffenen psychosoziale Unterstützung organisieren und verhindern, dass die Angst voreinander zu Konflikten führt – etwa die Angst vor den Binnenflüchtlingen aus IS-Gebieten.«

Menschen, die vor dem »Islamischen Staat« geflohen sind, werden oft verdächtigt, selbst IS-Terroristen zu sein. »Wir haben deshalb ein Café Global eingerichtet, um miteinander ins Gespräch zu kommen«, sagt Leyla. Auch wenn die grundlegenden Voraussetzungen schwer vergleichbar sind: In vieler Hinsicht ähnelt die Arbeit des Mandela House in Qamishli dem zivilgesellschaftlichen Engagement gegen Vorurteile und Rassismus hierzulande.

Spielen im Bunker: Ein unterirdischer Spielplatz der zivilgesellschaftlichen Initiative Lamset Amal. Foto: Fadi Alshami

Ein Warnsystem für Luftangriffe

Oftmals engagieren sich die AktivistInnen der Zivilen Zentren auch in anderen Bereichen, etwa bei der Verteilung von Hilfsgütern oder dem Zivilschutz, der meist von ZivilistInnen organisiert wird. »Wir haben in Talbiseh eine Beobachtungsstation, die von Ehrenamtlichen betrieben wird«, berichtet Hassan Abu Noah. »Der bekannteste Aktivist von ihnen heißt Mustafa. Er hat an den Minaretten der Moscheen ein System angebracht, über das er per Walkie-Talkie die Menschen vor Luftangriffen warnen kann.« Mustafa stehe im engem Austausch mit AktivistInnen in den Regionen, in denen die Militärflughäfen liegen. Startet dort ein Flugzeug, verbreiten sie die Information weiter und verfolgen dessen Kurs, indem sie den Funkverkehr abhören. »Das lässt Schlüsse darüber zu, was es angreifen wird und womit«, sagt Hassan. Das funktioniere aber nur bei syrischen Flugzeugen. Die russische Luftwaffe kommuniziere nicht immer mit den syrischen Bodenstationen. »Daher bietet das Warnsystem nur begrenzten Schutz.«

Zivilgesellschaftliche Strukturen können weder Bombardierungen und Kämpfe stoppen noch die Hungerblockaden beenden. Aber sie machen einen Unterschied: Sie ermöglichen es der syrischen Zivilbevölkerung, sich kollektiv und solidarisch für eine Verbesserung ihrer Lebenssituation einzusetzen und gewaltfreien Widerstand gegen Diktatur und Gewaltherrschaft zu leisten.

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