Mit großer Trauer und Bestürzung vernahm das Team von Adopt a Revolution gestern Nachmittag die stetig wachsende Anzahl von Facebook-Posts und Links, die den gewaltsamen Tod des syrischen Aktivisten Naji Jerf verkündeten. Wir erinnern uns an einen engagierten und warmherzigen Menschen, der auf das AaR-Team einen bleibenden Eindruck hinterlassen hat.
Naji ist schlank, fast hager und trägt halblanges, dunkles Haar. Er raucht viel, schaukelt nervös auf seinem Hocker vor und zurück und wippt mit dem Bein. „Wir sind doch auch Menschen“, sagt er immer wieder, „wir sind doch alle Menschen!“ […] Er lacht kurz auf, das erste Mal in diesem langen Gespräch. „Wir sind doch alle Menschen“, sagt er, und dabei schaut er schon wieder müde und traurig aus seinen dunklen Augen. – Adopt a Revolution über Naji Jerf im Mai 2013.
Wir trauern um den Kollegen Naji Jerf, der unser Kontaktmann für das Komitee Salamieh war. Ein aufgeweckter, unkonventioneller Philosoph, der sich unbeirrt für die Freiheit Syriens einsetzte: Gegen die Tyrannei Assads, aber auch die Schreckensherrschaft des Systems Daesh („IS“), das im Schatten des Assad-Regimes zu gespenstischer Größe erwachsen ist. Viele AktivistInnen vermuten nun Daesh als Urheber des Mordes an Naji Jerf am gestrigen Tag im türkischen Gaziantep.
Journalist, Aktivist, Vater, „Onkel“, Philosoph, Dokumentarfilmer, Revolutionär der ersten Stunde – diese Worte gelten Naji Jerf, Jahrgang 1977, aus der zentralsyrischen Stadt Salamieh, zuletzt wohnhaft in der türkischen Großstadt Gaziantep. Am gestrigen Sonntagnachmittag (27.12.2015) wurde auf Naji Jerf in Gaziantep gezielt ein Attentat verübt: Mittels einer schallisolierten Waffe wurde Jerf lebensgefährlich verletzt. Er erlag noch am selben Nachmittag seinen Verletzungen. Bereits am heutigen Mittag fand in Gaziantep die Beerdigung statt, der Sarg eingehüllt in die Fahne der syrischen Revolution.
Jerf hinterlässt eine Frau und zwei Töchter, mit denen er laut Aussagen von Freunden noch dieses Jahr das türkische Gaziantep gen Frankreich verlassen wollte. Es ist mehr als offensichtlich, dass jemand die besonnene, aber engagierte Stimme Naji Jerfs für immer zum Schweigen bringen wollte, bevor er die Türkei ins ferne Frankreich verlässt.
Zwar sind Tod und Zerstörung zum traurigen und leider allzu vertrauten Alltag der SyrerInnen geworden, seien sie noch in Syrien oder im vermeintlich sicheren Exil. Doch der Tod von Naji Jerf trifft viele syrische AktivistInnen tief ins Mark. Die Trauerbekundungen und Hintergrundberichte zum Tode Naji Jerfs reißen nicht ab. Sie alle beklagen den Verlust eines Freundes und eines aufopfernden Kämpfers für die Freiheit, den viele von ihnen nur zärtlich „Onkel“ nennen.
Hinzu kommt der Schock, dass auch die Türkei für syrische anti-Assad- und anti-Daesh-AktivistInnen wie Jerf keineswegs mehr sicher ist. Unweit der syrischen Grenze gelegen, hat sich die türkische Großstadt Gaziantep längst zum Hotspot syrischer AktivistInnen, NGOs, internationaler Geberorganisationen und Medien entwickelt. Ein Ort, an dem viele SyrerInnen Zuflucht gefunden haben, um in relativer Nähe und Sicherheit zum Heimatland den zivilen Widerstand gegen Assad und Daesh fortzuführen.
Bereits im Oktober 2015 wurden im türkischen Urfa zwei AktivistInnen der anti-Assad- und anti-IS-Gruppe „Raqqa is Being Slaughtered Silently“ (RBSS) in ihrer Wohnung hingerichtet aufgefunden (siehe Bericht des “The New Yorker” vom 30.10.2015). Damals bekannte sich Daesh ganz offen zu den Morden. Im Falle Naji Jerfs bleibt es bislang bei Vermutungen, dass Daesh hinter seiner Ermordung steckt.
Für diese Vermutung spricht u.a. die kürzlich erschienene Dokumentation „Daesh in Aleppo“ (leider noch ohne englische Untertitel), die die Machtpolitik des IS in der syrischen Metropole bis zur Vertreibung im Januar 2014 dokumentiert – allen voran seine Repression gegen zivile AktivistInnen und syrische ZivilistInnen. Verantwortlicher der Dokumentation: Naji Jerf. Es gibt zwar widersprüchliche Berichte darüber, ob Jerf tatsächlich Mitglied von „Raqqa is being Slaughtered Silently“ war, jedoch stand er ihnen offensichtlich persönlich und in seinen revolutionären Aktionen sehr nah.
Zweifelsfrei sind freie und mutige, unerschrockene Menschen wie Naji Jerf sowohl dem Regime Assad als auch Daesh ein Dorn im Auge. Untergraben jene AktivistInnen doch die von beiden Übeln gern genutzte Narrative, als einziger das syrische Volk vor dem „großen Übel“ zu verteidigen – also wahlweise vor dem säkularen Terrorregime Assad oder dem religiösen Terror des IS. Seit dem Erstarken des IS wehren sich zivile AktivistInnen gegen das Narrativ des „kleineren Übels“ Assad versus dem „größeren Übel“ Daesh. Beides ist schlicht: the „same shit“.
Das Schicksal Naji Jerfs zeigt erneut auf drastische Weise, wie sehr autoritäre Strukturen im Nahen Osten ziviles Engagement als Gefahr für ihre Herrschaft ansehen. Trotz existentieller Gefahr für Leib und Leben gibt der zivile syrische Widerstand gegen Assad und IS dennoch nicht auf. Allerdings brauchen die AktivistInnen emotionalen und finanziellen Beistand in ihrem so wichtigen Kampf um Freiheit mit friedlichen Mitteln.
Unsere Wut und Trauer über den Tod Najis ist ein Ansporn für Adopt a Revolution, noch stärker diejenigen zu unterstützen, die täglich all den Gefahren in Syrien trotzen und weiterhin den zivilen und friedlichen Widerstand gegen Terror und Willkür vorantreiben.
Mit einem eindringlichen Aufruf fordern syrische AktivistInnen: “Stoppt die Fassbomben, wir brauchen weniger Bomben, nicht mehr!” Wir unterstützen den Aufruf aus Syrien – und möchten auch Sie bitten: Zeigen Sie sich solidarisch, unterzeichnen Sie den Friedensaufruf aus Syrien!