Sami ist 28 Jahre alt, Syrer und Elektroingenieur. Er kommt aus Madaya, hat aber aufgrund der Belagerung der Stadt in den letzten Jahren in Damaskus gelebt. Nun musste auch er gehen. Wir haben ihn in der Aufnahmeeinrichtung in Eisenhüttenstadt getroffen, von wo er nach einigen Wochen nach Süddeutschland weiterverteilt wurde.
Wieso bist du aus Syrien geflohen?
Ich will nicht zum Militärdienst! Deswegen habe ich das Land verlassen. Viele meiner Freunde wurden direkt nach dem Studium eingezogen. Einige von ihnen hat man direkt an die Front gebracht und waren dann gezwungen zu kämpfen. Die höheren Ränge wissen genau, dass wir nicht kämpfen wollen, also wird hinter jeden Soldat noch einer zur Kontrolle gestellt. Es gibt also kein Zurück. Niemand interessiert sich für dein Leben.
Die andere Option ist, dass man in eine Gegend geschickt wird, in der tatsächlich keine Kampfhandlungen stattfinden. Dort muss man dann an den Plünderungen teilnehmen. Das Militär macht dich also zum Dieb. Wer sich weigert, wird eben in ein Gebiet mit Kampfhandlungen versetzt.
Was gibt es noch für Fluchtgründe?
Unser Haus in Madaya wurde komplett zerstört. Einige Zeit habe ich in Damaskus gelebt, studiert und bei der UN gearbeitet. Aber das Leben ist immer härter geworden: Durch die Währungskrise wurde mein Lohn so wertlos, dass er schon nach drei Tagen aufgebraucht war! Wir haben dann von humanitären Hilfspaketen gelebt. Strom ist derzeit ein Luxus in Syrien, warmes Wasser sowieso.
Die letzten drei Jahre waren absurd. Es gab zwar keine Bombardierungen mehr durch das Regime. Aber es gab nun eine neue Quelle der Angst: die Einmischung der Geheimdienste. Die Polizei agiert subversiv. Vor drei Jahren wussten wir genau, wie wir uns verhalten sollen. Aber jetzt fühlen wir uns so, als würde ein psychischer Krieg gegen uns geführt werden. Du kannst wegen jeder Kleinigkeit verhaftet werden, selbst wenn du nichts gemacht hast.
Ich selbst war nicht politisch aktiv in Syrien. Ich sehe mich weder als Unterstützer der Revolution noch ganz sicher nicht als Unterstützer des Regimes. Aber trotzdem bist du als junger Mensch in Syrien einer ständigen Sicherheitsgefahr ausgesetzt. Jeder Checkpoint heißt Erniedrigung und Angst.
Wie sahen die letzten Jahre bis zu deiner Flucht aus?
Das Studium habe ich lange rausgezögert, damit ich nicht zum Militär muss. Das ging zwei Jahre lang gut, dann habe ich 2019 doch meinen Abschluss machen müssen. Ich habe versucht, Arbeit in einem anderen Land zu finden – aber ohne Erfolg. Mein syrisches Zeugnis ist einfach nichts wert!
Für den Master in Damaskus wurde ich abgelehnt, weil plötzlich der NC angehoben wurde. Da war klar: Ich muss raus! Zwei Tage später war ich im Libanon.
Wusstest du, was dich auf der Route Belarus-Polen erwarten würde?
Ganz ehrlich… Bevor ich los bin, dachte ich, dieser Weg sei ein Spiel. Dabei hatten mich meine Freund*innen gewarnt. Sie waren unter den ersten, die es geschafft hatten. Obwohl sie innerhalb von zwei Tagen nach Deutschland gekommen waren, waren sie unter Schock und sie wollten nicht, dass ich gehe.
Einer meiner Freund*innen wurde von dem belarusischen Militär in einen Fluss geworfen. Er wurde dann von anderen irakischen Fliehenden gerettet. Auch nach mehreren Versuchen hat es nicht geklappt. Er ist desillusioniert und weiß nicht, was er noch tun soll. Europa hat die Situation an den Grenzen so schlimm gemacht, dass er nach Syrien zurückkehren musste.
Wie war die Flucht über die Grenze, was hast du erlebt?
Wir waren 12 Personen aus Madaya und Homs, eine gemischte Gruppe aus Christen und Muslimen. Wir haben uns alle erst in Minsk getroffen und wollten dann zusammen los.
Meine Mitreisenden haben alle Madaya verlassen als die Bombardierungen stark waren und sie vor dem Militärdienst fliehen mussten. Einige haben schon Jahre lang im Libanon gelebt und haben einfach keine Option mehr für ein Leben dort gesehen.
Ein Schmuggler hat uns mit dem Auto zur Grenze gebracht. 3 km mussten wir zu Fuß laufen. Wir haben den ersten Zaun überquert, wo belarussisches Militär war. Sie haben uns mit anderen Gruppen zusammen an einen Ort gebracht, von wo aus wir weiter in Richtung Polen laufen sollten. Nach 17 km sind wir leider auf polnisches Militär gestoßen, die haben uns festgenommen und zur Grenze zurückgebracht.
Das gleiche wiederholte sich: das belarussische Militär hat uns eingesammelt und an eine andere Stelle gebracht. Sie haben sogar die Grenzzäune für uns hochgehoben und meinten, jetzt müssten wir nur 5 km laufen. Wir liefen und liefen, waren durstig und hatten kein Wasser. Deshalb dachten wir, es sei eine super Idee in Richtung des Flusses auf der Karte zu laufen. Doch um den Fluss herum war Sumpfgebiet. Es war nachts, wir konnten nicht weiter ohne einzusinken. Zu der Zeit waren wir bereits total erschöpft und verzweifelt, denn es gab kein Vorwärts und kein Zurück. In der Hoffnung, das polnische Militär würde uns finden, haben wir ein riesiges Feuer gemacht. Wir waren irgendwo im Nirgendwo, wo uns niemand erreichen konnte. Einige waren so erschöpft, dass sie fast ohnmächtig wurden.
Irgendwann kamen Leute zur Hilfe und haben uns Wasser gegeben. Das hat uns geholfen aus der Hölle rauszukommen. Vier von uns ging es so schlecht, dass sie in ein polnisches Krankenhaus kamen – von dort wurden sie vom Militär wieder nach Belarus gepush-backt.
Wir hatten eine Location von einem Schmuggler und die versuchten wir zu erreichen. Der meldete sich aber nicht mehr. Der neue Schmuggler schickte uns eine neue Location. Wir machten uns auf den Weg. Dort angekommen, änderte er diese und wir hatten noch einmal 10 km vor uns. Ich war kurz vor dem Zusammenbrechen, ich konnte einfach nicht mehr.
Dann stießen wir auf eine andere Gruppe und liefen durch ein polnisches Dorf bis wir uns endlich wieder im Wald verstecken konnten. Meine Beine trugen mich fast nicht mehr. Meine Füße taten mir unendlich weh. Irgendwann kamen wir an der neuen Location an. Nach Stunden kam ein weißer Van. Wir waren inzwischen 19 Personen und wurden in den Lagerraum eingepfercht. Es war schrecklich: kein Wasser, kein Raum. Ich musste abwechselnd auf einem Bein stehen, denn Platz gab es keinen. 9,5 h später waren wir dann in Deutschland und wurden aus dem Van geschmissen.
Wie lange hat die Flucht gedauert, was hat sie gekostet?
Dieser Albtraum hat mich von Syrien bis Deutschland 7400 USD gekostet, die ich von allen Seiten zusammengeborgt habe. Ich habe 8 Monate im Libanon gelebt bis ich eine Möglichkeit hatte, das Land zu verlassen. Der Weg von dort bis Deutschland hat 12 Tage gedauert. Es war schrecklich: 12 Tage kaum geschlafen, kaum gegessen, dazu die ständige Angst und Nervosität.
Für mich war der Durst das schlimmste. Wir begannen von den Blättern zu trinken. Wir hatten genug Essen dabei, aber wir haben versucht nichts zu essen, um nicht noch durstiger zu werden. Als ich in Deutschland ankam, schmiss ich die Hälfte des Essens weg.
Fühlst du dich benutzt im Belarus-Konflikt mit der EU?
Also ich fühle dazu nichts… Lukaschenko ist selbst ein Diktator so wie Bashar! Aber ja, sie nutzen uns aus!
Was wünschst du dir? Und was müsste getan werden, damit die Flucht nicht so schrecklich ist?
Seit einigen Wochen denke ich darüber nach: Es kann keine Lösung sein, dass wegen einer Person, oder einer Handvoll Leute, alle Menschen das Land verlassen. Das Bleiben in Syrien und eine Rückkehr nach Syrien ist für viele Menschen unmöglich, solange diese Handvoll Menschen das Land regiert. Da bleibt uns nichts anderes übrig, als davon zu träumen, das Land zu verlassen.
Die Menschen aus Syrien haben klare Fluchtgründe, es muss für sie eine Lösung geben. Die Regierenden der Länder, aus denen wir fliehen, müssen weg, damit wir endlich wieder Bleibeoptionen in unseren Ländern haben. Syrien ist nicht sicher. Für niemanden!
Es gibt weiterhin emanzipatorische Initiativen in Syrien, die sich für eine demokratische Zukunft einsetzen und auf internationale Solildarität angewiesen sind. Können Sie mit einer Spende unterstützen?