Was sagen dir deine Quellen in Raqqa über die gegenwärtige Situation?
Ihre Lage ist natürlich sehr ernst. Die Stadt ist gänzlich eingekreist und die kurdisch-arabischen Syrian Democratic Forces (SDF) dringen vor. Daesh (arabisches Akronym für ISIS) kämpft mit einer enormen Zahl von Autobomben und improvisierten Sprengsätzen, es gibt seit vielen Wochen kaum noch Wasser oder Strom. Und auch die Luftangriffe der Internationalen Koalition töten Zivilisten. Jene, die noch immer in Raqqa sind, sind die Ärmsten der Armen. Jene, die einfach nicht fliehen konnten. Auch die Gesundheitsversorgung ist sehr schlecht, allein letzte Woche starben drei Frauen bei der Entbindung. Ebenso mangelt es an Lebensmitteln.
Wie sehen diese Menschen die Zukunft Raqqas nach dem Sieg über Daesh?
Die große Mehrheit der Menschen möchte Daesh loswerden. Sie wissen, dass es für sie kein normales Leben und keine Stabilität geben wird, solange Daesh existiert. Auf der anderen Seite leben sie seit mehr als drei Jahren unter der Herrschaft dieser Terrorgruppe, die ein totalitäres System errichtet hat und absolut jeden Aspekt ihrer Leben kontrolliert – von der Art wie sich die Menschen kleiden bis hin zur Art wie sie sprechen. Gleichzeitig wissen die Menschen in Raqqa nicht viel über ihrer Befreier. Sie wissen bloß, dass es „Kurden und Amerikaner“ sind. Die Unsicherheit über die eigene Zukunft führt ebenso zu Furcht wie die Luftangriffe, denen sie ausgeliefert sind. Sie sind an diesem Ort gefangen, ohne Wasser und unter Bomben während Daesh sie weiterhin wie Tiere behandelt, sie an der Flucht hindert und jeden Tag Verbrechen an ihnen begeht. Jetzt geht es für sie ums Überleben, nicht um das, was danach kommt.
Was muss auf nach dem Sieg über Daesh auf politischer Ebene geschehen?
Es braucht eine umfassende Strategie – die ich momentan bei den handelnden Akteuren nicht sehe: Nach der Befreiung Mossuls hat die irakische Regierung den Sieg über Daesh bekannt gegeben. Doch sie haben die Vorgängerorganisation schon in den 2000ern mehrfach für besiegt erklärt. Es geht hier nicht nur um militärische und politische Maßnahmen: Es geht um die Gesellschaft. Es gibt eine militärische Strategie – aber gibt es eine gesellschaftspolitische?
Sehen wir uns nur an, was jetzt in Mossul nach der Befreiung geschah: Die Armee hat Verbrechen an Menschen begangen, die sie der Mitgliedschaft verdächtigten. Aber die Terroristen und ihre Unterstützer oder gar ihre Familien zu töten löst nicht die Probleme. Wir müssen mit den lokalen Gesellschaften arbeiten, um zu verhindern, dass eine neue Macht entsteht, die noch schlimmer als Daesh sein könnte. Man muss den Menschen dabei helfen, eine Identität und eine Zukunft zu bauen. Eine nationale Identität etwa, die sich um öffentliche Dienstleistungen und einen funktionierenden Staat bildet, der seine Bevölkerung nicht misshandelt, sondern sich um sie kümmert. Dies wirkt dem Kreislauf der Rache und der Sektiererei entgegen. Gleichzeitig dürfen die lokalen communities nicht übergangen werden, sie müssen in den Wiederaufbauprozess involviert werden, man muss ihnen die Möglichkeit geben, ihre eigene Zukunft selbst zu gestalten. Der Staat muss eine integrierende Kraft werden.
Traditionelle Stammesstrukturen sind im Osten Syriens – rund um Raqqa und Deir ez-Zor – weiterhin sehr einflussreich. Wie siehst du ihre Rolle?
Die SDF versucht sie insbesondere seit der Etablierung des “Raqqa Civilian Council” für sich zu gewinnen. Aber es geht nicht nur um die Stämme. Einige glauben, man könne einfach in ein Gebiet gehen, einen Deal mit den dominanten Stammesführern schließen und dann einfach regieren. Aber so funktioniert es nicht. Das Assad-Regime hat genau das getan. Die meisten Vertreter der östlichen Regionen im syrischen Pseudo-Parlament entstammten den wichtigen Stämmen. Aber wir haben doch gesehen, was insbesondere in dieser Region während der letzten Jahre geschehen ist. Wenn wir die selben Instrumente wie zuvor benutzen, so werden wir die selben Ergebnisse produzieren. Und die waren offensichtlich nicht gut.
Auf der anderen Seite sind die Stämme natürlich wichtig. Im Sommer 2014 massakrierte Daesh den al-Sheitat-Stamm, nachdem sie sich wochenlang bekämpft hatten. Sie töteten mehr als 600 Menschen dieses Stammes, weil sie sich der Daesh-Herrschaft widersetzten und außerdem stark in den Ölhandel involviert waren. Während sich einige Stämme Daesh anschlossen, haben andere sich ihm widersetzt und wurden dafür brutal verfolgt. Oder nehmen wir den Irak: Nach 2005 gründete man dort in der mehrheitlich sunnitischen Anbar-Provinz die Sahwa-Miliz, die auf den dortigen Stammesstrukturen aufbaute. Ein Ziel: “al-Qaida im Irak” auszuschalten, die Vorgängerorganisation Daeshs. Und sie waren erfolgreich dabei. Doch dann ließ die irakische Regierung sie fallen und viele ehemalige Mitglieder dieser Allianz begannen für Daesh zu kämpfen.
Solange man die Stämme als Karte auf dem Tisch liegen lässt, kann jeder diese Karte ausspielen. Jeder dieser Stämme hat außerdem mehrere Anführer, sie sind nicht zentralistisch organisiert. Man kann mit ihnen kooperieren, um Stabilität zu erlangen. Langfristig aber, sind sie keine Lösung.
Was müsste also nach dem Sieg gegen ISIS passieren?
Die Frage müsste sein: Was brauchen die lokalen communities? Hier gibt es klare Antworten: Sicherheit, ein normales Leben, funktionierende öffentliche Dienstleistungen und Gerechtigkeit. Kein brutales autoritäres System, das das Land und seine Bevölkerung ausbeutet. Aber ich befürchte, dass man die Fehler aus dem Irak wiederholen könnte. Es gab keinen Plan wie man eine stabile Regierung der Einheit sicherstellt. Die Fehler, die damals begangen wurden – im Umgang mit Minder- und Mehrheiten und den Stämmen – legten das Fundament für die darauffolgenden Fehler, die letztlich dazu führten, dass Daesh Mossul in nur zwei Stunden erobern konnte. Das Problem war, dass es nach 2003 nicht gelungen ist, den Menschen in den heute vom Daesh-Terror betroffenen Regionen eine attraktive Perspektive zu bieten. Und man hatte ein ganzes Jahrzehnt, um das zu erreichen.
Dabei ist das Problem viel größer als Daesh. Der Assadismus ist am Leben, der Saddamismus ebenfalls noch immer. Doch warum hat der Daesh-Horror vor allem Gegenden wie Ägyptens Sinai, Syriens Osten und Iraks Nordwesten betroffen? Warum ist all das unter autoritären Herrschern passiert, die ihre Bevölkerung ausbeuteten und insbesondere in den abgelegensten Teilen dieser Länder? Das ist kein Zufall. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Menschen anfänglich gegen Assad demonstrierten und nach Würde und sozioökonomischer Gerechtigkeit verlangten.
Ein großer Fehler im Irak nach 2003 war die fehlgeleitete Entbaathifizierung, die sunnitische Extremisten stärkte. Wie sollte man mit Daesh-Mitgliedern und ihren Unterstützern verfahren? Wie kann Gerechtigkeit erlangt werden?
Die Entbaathifizierung im Irak hat nicht nur die sunnitischen Radikalen gestärkt. Sie hat alle Radikalen gestärkt, weil sie in dieser Form eine inklusive Regierung verhinderte. Jetzt bekämpfen im Irak und Syrien Radikale – irakische, libanesische, afghanische schiitische Milizen – Daesh. Ich setze sie nicht gleich, aber wie soll das zu Stabilität führen? Es wird bestenfalls zu erzwungener Stabilität führen, doch diese ist weder nachhaltig noch führt sie zu Frieden.
Was Daesh betrifft, so müssen wir die Unterschiede zwischen ihren Mitgliedern sehen. In Mossul wurden Leute brutal getötet, die der Mitgliedschaft nur verdächtigt wurden. Das ist Rache und hat mit Gerechtigkeit nichts zu tun. Es gibt Leute die für Daesh-Behörden arbeiten, technisch sind das Mitglieder der Gruppe, aber sie haben niemanden getötet. Solche Fälle können – solange es sich um Einheimische handelt – vielleicht in die Gesellschaft reintegriert werden. Jene die getötet haben, die an Verbrechen beteiligt waren, müssen strafrechtlich verfolgt und bestraft werden. Aber es muss darum gehen, Rechtsstaatlichkeit herzustellen, nicht Rache walten zu lassen. In den kürzlich befreiten Gebieten bei Raqqa scheint man so zu handeln.
Interview: Jan-Niklas Kniewel