Pressemitteilung: Projektpartner berichten von Massenflucht in Idlib

Offenbar haben Russland und das Regime die lange befürchtete Idlib-Offensive gestartet. Wie bei vorherigen Offensiven gehören Angriffe auf die Zivilbevölkerung zur militärischen Strategie.

Berlin, 7. Mai 2019. Seit Ende letzter Woche eskalieren syrische und russische Armee die Lage in der nordwestsyrischen Provinz Idlib mit hunderten Luftangriffen und Granatbeschuss. Ein großer Teil der Angriffe auf die Region, die im Rahmen der Astana-Gespräche als „Deeskalationszone“ deklariert wird, gilt zivilen Zielen, darunter Krankenhäusern, medizinischen Einrichtungen und Flüchtlingslagern. Das Assad-Regime setzt dabei wieder massiv per UN-Resolution geächtete Fassbomben ein, auch der Einsatz von Streumunition wird berichtet.

ProjektpartnerInnen von Adopt a Revolution berichten, dass Tausende Menschen aus den am heftigsten bombardierten Orten ins Innere der Provinz Idlib fliehen. Ein großer Teil der Menschen harrt auf Feldern und unter Bäumen aus. Nach Angaben der Vereinten Nationen waren vor der jüngsten Offensive seit Februar bereits rund 140.000 Menschen innerhalb Idlibs auf der Flucht, zivile Ersthelfer gingen bis zum vergangenen Wochenende von mindestens 100.000 zusätzlichen Flüchtlingen aus. Schätzungen lokaler Organisationen zufolge wurden bei den Angriffen rund 200 ZivilistInnen getötet, die Opferzahlen steigen derzeit stündlich.

Regimenahe Medien sprechen vom Beginn einer „lange erwarteten“ Militäroffensive auf Idlib. Mit Angriffen auf zivile Ziele setzen setzen Russland und das Assad-Regime offenbar auf dieselbe militärische Strategie, die bereits bei vergangenen Offensiven zur Anwendung kam.

„Die Stadt ist voll tausender Flüchtlinge, viele sind einfach am Stadtrand geblieben und kampieren schutzlos auf Feldern oder Straßen. Die hiesigen NGOs und die lokale Verwaltung tun nichts, die humanitären Einrichtungen sind völlig überfordert.“

Mohammad, Theaterregisseur in Idlib Stadt

Die Region Idlib wird seit Anfang des Jahres fast vollständig von der dschihadistischen Miliz Hay‘at Tahrir al-Sham (HTS) kontrolliert. Adopt a Revolution arbeitet in der Gegend mit sieben zivilgesellschaftlichen Partnerprojekten zusammen, darunter Projekte, die mit ziviler Selbstorganisation Widerstand gegen Extremismus leisten (vgl. Hintergrundstudie von Haid Haid). Obwohl sich deren MitarbeiterInnen häufig Drohungen und Verfolgung seitens HTS ausgesetzt sehen, nehmen sie die Verfolgung durch das Assad-Regime als gefährlicher wahr, als die durch HTS.

„Die Mehrheit hier zieht das Leben unter HTS vor. Denn während die Extremisten das demokratische Gesicht der syrischen Revolution bekämpfen, bekämpft das Assad-Regime einfach jeden.“

Akram, Idlib Media Center

In Idlib leben rund 3 Millionen ZivilistInnen. Mehr als die Hälfte von ihnen sind Binnenvertriebene, die bereits einmal vor dem Assad-Regime geflohen sind, etwa weil ihnen als Oppositionelle oder zivile AktivistInnen der syrischen Revolution von 2011 Verfolgung durch das Assad-Regime droht. Sollte sich die Lage in Idlib weiter zuspitzen, sähen sich viele von ihnen gezwungen, weiter zu fliehen in Richtung türkischer Grenze. Bereits im vergangenen September hatte UN-Generalsekretär Antonio Guterres vor einem „Blutbad” gewarnt, falls es zu einer Großoffensive auf Idlib komme.

„Sollte auch Idlib Stadt so bombardiert werden, wie derzeit die Dörfer im Süden der Provinz, dann würde ich mit meiner Familie Zuflucht im Grenzgebiet zur Türkei suchen.“

Mohammed, Idlib Stadt

Die Zivilgesellschaft Idlibs hat in den Vorjahren vielerorts lange erfolgreich unbewaffneten Widerstand gegen HTS und andere dschihadistische Gruppen geleistet. In der Studie „Widerstand zwecklos? Wie Syriens Zivilgesellschaft den Extremismus bekämpft“ hatte Adopt a Revolution Ende 2017 auf die Bedrohung durch HTS und Chancen unbewaffneten Widerstands gegen die Dschihadisten aufmerksam gemacht. Mit der Regime-Offensive wird die Situation für die von Adopt a Revolution unterstützten Projekte und andere zivilgesellschaftliche Initiativen immer bedrohlicher, einige mussten bereits ihre Aktivitäten einstellen. Sichere Zufluchtsorte für die Zivilbevölkerung in Idlib gibt es kaum, auch weil die Türkei ihre Grenze weitestgehend abgeriegelt hat