Syrien am Scheideweg

Diktatoren kommen und gehen, doch die Zivilgesellschaft bleibt. In Syrien kämpfte sie unermüdlich gegen das Assad-Regime. Auch nach dessen Sturz bleibt die Unsicherheit unter den neuen Machthabern – deshalb ist ihre Arbeit heute wichtiger denn je.

In Syrien bewegt sich viel. Besonders Menschen, die sich zivilgesellschaftlich engagieren, sind unterwegs, reisen durch das Land, um sich zu vernetzen und gemeinsam die Zukunft Syriens zu gestalten.  Jahrelang haben sie im Verborgenen oder außer Reichweite des langen Arms des Assad-Regimes gearbeitet. Jetzt können sie sich erstmals persönlich begegnen. Bei Konferenzen und Treffen stehen Themen wie gesellschaftlicher Zusammenhalt und die Rechte von Minderheiten ganz oben auf der Agenda.

„Wir Syrer*innen kannten uns kaum – und genau darauf hat das Assad-Regime gesetzt. Über 50 Jahre lang lebten wir mit beängstigenden Vorurteilen übereinander. Wir müssen begreifen, dass diese Spaltungen eine gezielte Strategie des vergangenen Regimes waren.”

Wajiha Hajjar, Baladi

Syrien ist ein Land ethnischer und religiöser Vielfalt. Die Interessen einzelner Gruppen wurden mehr als 50 Jahre lang unter der Assad-Diktatur erstickt. Die neuen Machthaber, allen voran Ahmad Al-Sharaa, Anführer der islamistischen Hayat Tahrir Al-Sham (HTS), beteuert, den Zusammenhalt im Land zu stärken. Doch diese Versprechen sind mit Vorsicht zu genießen – entscheidend sind nicht Worte, sondern Taten.

Nichts schönreden

Viele Aktivist*innen sorgen sich zum Beispiel über die fehlende Repräsentation von Frauen in den Übergangsinstitutionen. Zudem tauchen immer wieder Videos auf, die Plakate in öffentlichen Bussen zeigen – mit Aufforderungen an Frauen, ein Hijab oder sogar einen Niqab zu tragen. Ob es sich um eine individuelle Initiative oder eine staatlich gesteuerte Kampagne handelt, bleibt unklar. Doch gerade weil die Haltung der HTS zu Frauenrechten ungewiss ist, gilt es umso mehr, genau hinzusehen und nichts zu beschönigen:

“HTS blickt auf eine lange Geschichte der Diskriminierung von Frauen zurück. Wir kritisieren sie scharf, weil sie die politische Partizipation von Frauen systematisch unterbinden. Wenn in Deutschland diskutiert wird, dass Ahmad Al-Sharaa der Außenministerin den Handschlag verweigert hat, ist unsere Kritik aus Syrien noch viel deutlicher. Es braucht Druck und lebendige Debatten über rechtliche Fragen, damit Frauenrechte nicht nur leere Versprechen bleiben.”

Anas Al-Rawi, Hooz-Zentren

Ein echter Neubeginn kann auch nur gelingen, wenn die tiefen Wunden des Krieges heilen. Noch immer gelten mehr als hunderttausend Menschen in Syrien als vermisst – ihre Familien wissen nicht, was mit ihnen geschehen ist. Die Aufklärung dieser Schicksale sowie die Aufarbeitung von Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen sind entscheidend, um Gerechtigkeit zu ermöglichen. Auch hier leisten zivile Gruppen wichtige Arbeit.

Gleichzeitig sind die Herausforderungen der Vergangenheit nicht verschwunden. Trotz des Sturzes des Regimes hat sich die Notlage in den Flüchtlingscamps kaum verbessert. Viele Menschen können nicht in ihre Heimatorte zurückkehren, da ihre Häuser zerstört wurden.

„Ohne den Wiederaufbau werden die Menschen noch jahrelang in Zelten leben müssen. Die meisten Hilfsorganisationen arbeiten jetzt in Damaskus und in den neu befreiten Provinzen. Dadurch werden die Camps und ihre Bewohner*innen vernachlässigt.”

Souad Al-Aswad, Leiterin Change Makers

Jetzt ist nicht die Zeit, sich abzuwenden. Gerade in dieser ungewissen Phase braucht die syrische Zivilgesellschaft mehr denn je Unterstützung – für einen echten Neuanfang, der alle einbezieht.

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