ISIS in Raqqa, die Zukunft Assads & Kurdistans – Presseschau vom 30. Dezember 2013

Chris Looney beleuchtet für Joshua Landis die Situation in Raqqa, einer Stadt im Nordosten Syriens, wo seit Mai 2013 der Al-Qaida-Ableger „Islamischer Staat im Irak und der Levante“ (ISIS) mit einer Mischung aus Repression und Abschottung regiert. Raqqa blieb zu Anfang des Aufstandes ruhig, während die Einwohnerzahl durch Flüchtlingsströme von 240.000 auf eine Million anwuchs. […]

Chris Looney beleuchtet für Joshua Landis die Situation in Raqqa, einer Stadt im Nordosten Syriens, wo seit Mai 2013 der Al-Qaida-Ableger „Islamischer Staat im Irak und der Levante“ (ISIS) mit einer Mischung aus Repression und Abschottung regiert. Raqqa blieb zu Anfang des Aufstandes ruhig, während die Einwohnerzahl durch Flüchtlingsströme von 240.000 auf eine Million anwuchs. Es gab Absprachen zwischen lokalen Stammesführern und dem Assad-Regime, was es Assad möglich machte, dort mit wenig Aufwand für Stabilität zu sorgen. Ende Februar 2013 wurde Raqqa jedoch zur ersten Provinzhauptstadt, welche den Rebellen in die Hände fiel. Möglich war die Einnahme durch einen Zusammenschluss verschiedener Bataillone, welche danach allerdings unterschiedliche Auffassungen über die Gesellschaft entwickelten. Jabhat al-Nusra (JN) schmiedete mit Ahrar al-Sham eine starke Allianz und folgte einer streng islamischen Agenda. Viele Kämpfer der JN waren lokal mit der Provinz verbunden oder selber Syrer; sie trugen keine Masken und genossen eher Wohlwollen in der Bevölkerung.

Im April 2013 gab Abu Bakr al-Baghdadi, Anführer der damaligen „Islamischer Staat im Irak“ (ISI), die Zusammenführung seiner Gruppe mit der JN zu ISIS bekannt. Die ISIS demonstrierte daraufhin mit der öffentlichen Hinrichtung von Alawiten ihre Macht. Die ISIS-Herrschaft wird durch Einschüchterung der Opposition, der Schaffung einer Wirtschaft der Abhängigkeit sowie dem Anschluss des östlichen Syriens an ihre Hochburgen im Irak gesichert. Durch die Steuerung des Warenverkehrs wurde Raqqa von ISIS abhängig, was zur Konsolidierung deren Autorität führte. Öffentliche Bibelverbrennungen und die Zerstörung von Kirchen veranlassten die meisten Christen der Stadt zur Flucht. Durch die Feindseligkeit gegenüber Minderheiten sowie der brutalen Unterdrückung der Opposition hat die Glaubwürdigkeit von ISIS starke Einbußen erlitten. Es bleibt daher abzuwarten, ob die Strategie der ISIS nachhaltig ist.

Ansar Jasim beschreibt in einem Artikel für Medico die strukturelle Gewalt gegen die Körper der Aufständischen, welche vom syrischen Regime ausgeübt wird. Das Regime biete einen Tausch an: entweder ergeben sich die Menschen, werden von der Regierung mit Nahrungsmitteln & Dienstleistungen versorgt und leben somit als Tiere – oder sie sterben als Freie im Elend. „Hungern oder Niederknien“ lautet der Slogan, welcher vermehrt an Außenmauern belagerter Stadtteile zu lesen ist. In Homs sieht man die Zugehörigkeit der Gebiete nicht an zerstörten Regimesymbolen, sondern am Licht: In Gebieten, wo sich die Menschen konform verhalten, gibt es Strom, Licht und fließendes Wasser. Gebiete, die sich erhoben haben, bleiben dunkel. Es wird ein klarer Trennungsstrich gezogen zwischen denjenigen, die weiterhin als „syrische BürgerInnen“ gelten und jenen, die vogelfrei geworden sind. Das Aushungern wird als Technik der Macht über den Körper genutzt. Diese Politik behindert die AktivistInnen in ihrer politischen Arbeit. Sie können nun nicht mehr Konzepte für alternative Strukturen zum Regime entwickeln, da sie sich um das tägliche Überleben kümmern müssen.

Emile Hokayem bewertet in der New York Times den gegenwärtigen Umgang mit Assad kritisch. Durch den Zuwachs von Extremisten in Syrien keime in den USA der Gedanke auf, dass Bashar al-Assad das „kleinere Übel“ sei und als Partner gegen den Terrorismus fungieren könne. Man dürfe hierbei allerdings nicht vergessen, dass Assad friedliche AktivistInnen tötete, aber viele Salafisten aus den Gefängnissen entließ, um die Opposition nachhaltig zu schwächen. So wurde es ihm möglich, die syrische Revolution als islamistisch-gefärbten Terrorismus in Verruf zu bringen. Der Westen stattete die gemäßigten Rebellen nur zögerlich mit nichttödlichem Equipment aus, während islamistische Gruppierungen mit hohen Geldsummen aus der Golfregion unterstützt werden. Das Interesse des Westens liege in Syrien darin, seine inländische Bedrohung von westlichen Dschihadisten zu minimieren.

Assad gehe davon aus, dass im Westen die Angst vor dem islamistischen Terrorismus größer sei als das Befremden über die von seinen Truppen begangenen Massaker. Allerdings sollten die begangenen Gräueltaten sowie Assads sektiererische Strategien den Trugschluss ausgelöscht haben, dass er säkular sei. Eine Wiederherstellung der Anti-Terror-Allianz mit Assad werde das Dschihad-Problem nur verschärfen. Sunniten werden den Verdacht hegen, dass der Westen seit eh und je mit dem Regime unter einer Decke stecke. Die beste Anti-Terror-Strategie sei die Unterstützung der säkularen Rebellen als Teil einer breiteren Politik, was vom Weißen Haus mehrfach abgelehnt wurde.

Andy Spyra & Younes Mohammad beschreiben auf Jadaliyya ihre Eindrücke aus Rojava, dem kurdischen Namen für die kurdischen Gebiete in Syrien. Beide bereisten mehrere Städte, als die Kämpfe zwischen der kurdischen Miliz YPG und den islamistischen Gruppen wie ISIS in vollem Gange waren. In der Kleinstadt Derek ging das Leben seinen normalen Gang, der Krieg war weit weg. Es gab Geschäfte mit Alkohol und offene Restaurants. Anders sah es in Ra’s al-‘Ayn, der Frontstadt, aus. Zeichen des offenen Krieges waren überall, die Kirchen durch Bombensplitter und Kugeln geschändet. Viele Mitglieder der YPG-Miliz sind sehr jung, die meisten kaum zwanzig Jahre alt. Einige kamen direkt von der Universität zur Front. Die Gründe für ihren Eintritt in den Krieg sind gleich: Ihr Land und die kurdische Idee verteidigen. Auch VICE berichtet über den Kampf um Syrisch-Kurdistan zwischen kurdischen wie christlichen Gruppen auf der einen und islamistischen Gruppen auf der anderen Seite. Eine ca. halbstündige Dokumentation zeigt Szenen aus Rojava – einem beinahe unberichteten Konflikt aus Syrien, wie VICE argumentiert.

Wladimir van Wilgenburg beschäftigt sich mit der syrisch-irakischen Rivalität unter den KurdInnen (Al-Monitor). Die Kolonialgrenzen haben die KurdInnen geteilt und zu einer Minderheit in mehreren Ländern gemacht. Der syrische Bürgerkrieg und die Schwächung der Zentralstaaten in der MENA-Region hätten die kurdischen Parteien nicht vereinheitlicht, sondern in neue Machtkämpfe getrieben. Es gibt nun zwei Autonomiegebiete in Syrien und im Irak, die miteinander konkurrieren.

Die wichtigsten kurdischen Parteien in Syrien sind die Demokratische Unionspartei (PYD), die von der kurdischen Arbeiterpartei (PKK) unterstützt wird, sowie der kurdische Nationalkongress (KNC), aus mehreren Splitterparteien bestehend. Der KNC wird von Massoud Barzani, dem Präsidenten der ölreichen, kurdischen Region im Irak, und seiner Demokratischen Partei Kurdistans (KDP) unterstützt. Die PYD ist derzeit die stärkste kurdische Partei in Syrien und revolutionär-marxistisch eingestellt, während die KDP die kurdischen Gebiete im Irak nach dem kapitalistischem Vorbild Dubais aufbauen will. Barzani wolle Öl und Gas in die Türkei exportieren, während die PKK mit dieser verfeindet ist. Der PKK-Führer Abdullah Öcalan wolle Kurdistan nach Vorbild des demokratischen Konföderalismus aufbauen, ohne die territoriale Integrität der bestehenden Staaten zu verletzen. Auch Mitglieder der KNC sehen die Verwirklichung eines Großkurdistans mit eigenen Grenzen als Utopie an. Es gebe momentan keinen internationalen Willen, einen solchen Staat für die Kurden zu erschaffen. Als Fazit geht van Wilgenburg davon aus, dass der Arabische Frühling die Autonomie der kurdischen Gebiete stärken wird, allerdings nicht unbedingt ein eigenständiger Staat entstehen werde. Die politischen Differenzen zwischen den wichtigsten kurdischen Partien erschwerten solche eine Lösung zudem.

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