Razan Zaitouneh: Ein Jahr Ungewissheit

Am Tag, als unsere letzte Adopt a Revolution-Zeitung im Jahr 2013 erschien, wurde Razan verschleppt. Aus der Druckerpresse lief tausendfach ihr Name: Razan Zaitouneh, Sprecherin des Aktivsten-Netzwerks der Lokalen Koordinationskommitees (LCC) in Syrien, denn von ihr stammte der Aufmachertext. “Die Chemiewaffen überlebt, vom Hunger bedroht” beschrieb die Lage in der “befreiten” Region Ost-Ghouta. Im August […]

Am Tag, als unsere letzte Adopt a Revolution-Zeitung im Jahr 2013 erschien, wurde Razan verschleppt. Aus der Druckerpresse lief tausendfach ihr Name: Razan Zaitouneh, Sprecherin des Aktivsten-Netzwerks der Lokalen Koordinationskommitees (LCC) in Syrien, denn von ihr stammte der Aufmachertext. “Die Chemiewaffen überlebt, vom Hunger bedroht” beschrieb die Lage in der “befreiten” Region Ost-Ghouta. Im August zuvor waren dort Chemiewaffen niedergegangen, über 1.300 Menschen starben im Schlaf. Gleichzeitig drohte der Region ein ähnlich grausamer Tod, das Verhungern. “Kniet nieder oder hungert” schrieben Soldaten an den Checkpoints an die Wände und überließen die Menschen dem Mangel.

Razan wusste genau, worüber sie schrieb, denn auch sie war vom Regime eingeschlossen. Als Mitgründerin unseres Partner-Netzwerks, der Lokalen Koordinationskomitees (LCCs), lebte sie seit Beginn der Revolution im Untergrund und wurde als führende Menschenrechtsaktivistin intensiv vom Regime gesucht. Nach zwei Jahren im Versteck hoffte sie dann, in den Vorstädten von Damaskus freier leben und arbeiten zu können, immer für ein gerechtes, säkulares Syrien, das seinen BügerInnen Menschen- und Minderheitenrechte garantiert. Um das zu erreichen, dokumentierte sie unermüdlich die Verbrechen des Regimes, aber auch diejenigen der bewaffneten Opposition, und organisierte humanitäre Hilfe für die belagerten Menschen, mit denen sie zusammenlebte. Ihr Land wollte sie unter keinen Umständen verlassen, denn wie – so fragte sie – könnte sie im Ausland glaubhaft für die Revolution einstehen?

Doch auch im “befreiten” Douma bestand Gefahr: Die Vororte waren und sind einem täglichen Bombardement mit Granaten ausgesetzt, Lebens- und Heizmittel sind Mangelware und werden von Schmugglern zu Wucherpreisen verkauft. Darüber hinaus war Razan, die mit weiteren AktivistInnen das Menschenrechtsbüro des Violations Documentation Centers (VDC) unterhielt, angefeindet. Denn Menschenrechtsverletzungen dokumentierte und kritisierte das Team vom VDC-Büro unabhängig davon, wer sie begangen hatte. Damit war sie den lokalen Machthabern Doumas ein Dorn im Auge: Bereits im Herbst 2013 wurden Todesdrohungen gegen Razan geäußert. Zivile AktivistInnen des Lokalen Komitees und weiterer Gruppen setzten sich daraufhin für ihre Sicherheit ein.

Razan ist allen AktivistInnen der ersten Stunde der syrischen Revolution ein Begriff, für viele ist sie Sinnbild des friedlichen Aufstands für Freiheit und Würde. Als eine von nur wenigen AktivistInnen gelangte die junge Menschenrechtsanwältin auch im Ausland zu einer gewissen Anerkennung: Im Herbst 2011 wurde ihr mit AktivistInnen aus anderen Ländern des arabischen Frühlings der Sacharow-Preis des Europaparlaments zugesprochen; auch mit dem Anna-Politkowskaja-Preis wurde sie im selben Jahr ausgezeichnet. Keinen der Preise nahm sie persönlich an – schon allein, weil sie das Land nicht verlassen konnte. Allerdings machte sie sich nicht viel aus Auszeichnungen, denn ihr Traum blieb der eines von Diktatur befreiten Syriens.

In ihrer letzten Videobotschaft, die sie für den Internationalen Tag der Menschenrechte, den 10.12.2013, aufzeichnete, wandte sie sich aus Douma an die Öffentlichkeit. Zwar gezeichnet von den Entbehrungen der Belagerung, forderte sie weiterhin vehement die Verfolgung der Menschenrechtsverbrechen aller Seiten. Nur wenige Stunden nach der Aufzeichnung wurde Razan mit ihrem Ehemann Wael Hamadah und ihren zwei KollegInnen Samira al-Khalil und Nazim Hammadi verschleppt. Seitdem gab es keine Nachricht der Entführten mehr.

Razan Zaitouneh und die Douma4
Freiheit für die “Douma 4”, die nun seit genau einem Jahr entführt sind. Quelle: Kollektiv “The Syrian People Know Their Way”.

Als Initiative Adopt a Revolution sind wir erschüttert vom Verschwinden Razans und verurteilen die Verschleppung aufs schärfste. Die “Douma 4”, wie die Gruppe der Entführten mittlerweile genannt wird, haben unter anderem Unterstützung von 45 internationalen Organisationen bekommen; ebenso setzen sich zahlreiche AktivistInnen für ihre Freilassung ein. Auch wenn es nur wenige handfeste Belege gibt, machen die Angehörigen der Entführten mittlerweile Zahran Alloush für die Entführung verantwortlich – was wir plausibel finden. Er ist Oberbefehlshaber der “Armee des Islam”, die Douma militärisch kontrolliert – was ihm zunächst einmal die Verantwortung aufbürdet für alle Menschen, die dort leben. Zudem wurde der Computer der Entführten später im Hauptquartier der bewaffneten Miliz Alloushs eingeschaltet und von dort versucht, auf das Facebookprofil einer der Geiseln zuzugreifen.

Razan und die “Douma 4” sind noch immer ein Symbol für die Revolution, wie Razans Schwester Rim im Interview in unserer neuen Adopt a Revolution-Zeitung beschreibt. In diesen Tagen, rund um den 1. Jahrestag der Entführung, gibt es in ganz Syrien viele Solidaritätsaktionen, die die Freilassung der “Douma 4” fordern. Vielen der zivilen AktivistInnen, die diese Aktionen organisieren, ergeht es ähnlich wie den Entführten: Sie werden von Dschihadisten verfolgt – genauso, wie sie vom Regime verfolgt werden. Doch sie streiten mit vielen zivilen Projekten für ihre Freiräume, in denen sie die zarten Ansätze einer freien, demokratischen und gerechten Gesellschaft leben und verwirklichen können.

Zeigen auch Sie Ihre Solidarität. Machen Sie mit bei der Solidaritätsaktion für die “Douma 4” und unterstützen Sie die junge syrische Zivilgesellschaft mit Ihrer Spende!

Freiheit für Razan, Freiheit für die “Douma 4”, Solidarität mit der syrischen Zivilgesellschaft. Herzlichen Dank für Ihre anhaltende Unterstützung!