Nach der verheerenden Explosion im Hafen von Beirut ist die Wut gewaltig: Massenproteste haben die libanesische Regierung zum Rücktritt gezwungen – dabei war diese erst im Januar als „Übergangsregierung“ angetreten.
Schon seit Oktober 2019 fordert eine breite Bewegung vor allem jüngerer Menschen die Ablösung der korrupten politischen Klasse. Sie haben genug von der Misswirtschaft und verlangen wirtschaftliche Reformen und ein neues Wahlrecht, um dem Libanon aus der Krise zu helfen. All das hätte die Übergangsregierung erarbeiten sollen.
Was bedeutet der Rücktritt der Regierung für den Libanon?
Auch wenn diese Übergangsregierung unter Premierminister Hassan Diab Reformen und ein neues Wahlrecht versprochen hatte, wurde sie von von vielen schnell ebenfalls als Repräsentation des korrupten, konfessionellen Elitensystems wahrgenommen. In den vergangenen Tagen sind nach und nach mehrere Minister*innen abgetreten, dann wurde der Rückritt der Regierung bekannt gegeben. Zwar bleibt die Regierung geschäftsführend im Amt, aber so wird es ihr noch weniger gelingen, die dringend benötigten wirtschaftlichen und politischen Reformen auf den Weg zu bringen.
Der Rücktritt ist dabei Chance und Risiko zugleich. Auf der einen Seite bietet das Machtvakuum die Chance, nun endlich einen echten politischen Neuanfang zu wagen. Den hatten bereits die Oktoberproteste verlangt. Hierfür bräuchte es eine wirklich unabhängige Expertenregierung für den Übergang, die Reformen durchführt, um das klientelistische politische System zu überwinden.
Das Risiko ist, dass in dieser Phase der Unsicherheit und des wirtschaftlichen Verfalls die konfessionellen Spaltungen des Landes wieder zunehmen. Sie tragen den 15-jährigen, erst 1990 beendeten Bürgerkrieg im Wesentlichen bis in die heutige Zeit hinein weiter.
Auch der Einfluss der mit dem Iran verbündeten Hisbollah könnte zunehmen. Die Hisbollah sitzt einerseits als Partei im Parlament, übt aber zugleich über als bewaffnete Miliz politische Gewalt aus.
Welche grundlegenden Machtblöcke gibt es im politischen System des Libanon?
Spaltungen gibt es im Libanon auf verschiedenen Ebenen. Zum einen teilt sich das politische Spektrum seit der Zedernrevolution von 2005 an der Frage, wie die Parteien zu Syrien stehen. Das »8. März-Bündnis« unter Führung des derzeitigen libanesischen Präsidenten Michel Aoun steht für enge Beziehungen zu Syrien.
Das »14. März-Bündnis« machte dagegen Syrien für den Mord am 2005 ermordeten libanesischen Premierminister Rafik Hariri verantwortlich. Geführt wird die Allianz vom Rafik Hariris Sohn Saad, der bis Oktober 2019 Premierminister war und syrischen Einfluss im Land ablehnt. Die Namen der beiden Blöcke beziehen sich jeweils das Datum großer Demonstrationen mit je bis zu 500.000 Teilnehmer*innen, die 2005 auf die Ermordung Hariris folgten.
Zum anderen schreibt die libanesische Verfassung vor, dass der Präsident ein maronitischer Christ und der Premierminister ein Sunnit sein muss, dass die Sitze im Parlament je zur Hälfte von Christen und von Muslimen eingenommen werden. Dieses Proporzsystem macht es unglaublich schwierig, die politischen Posten überhaupt zu vergeben.
Schließlich dominieren noch immer Politiker*innen das aktuelle politische System, die im Bürgerkrieg selbst militärische Führer oder Warlords waren. Möglich ist das einerseits, weil sie sich selbst eine Amnestie einräumten, andererseits, weil sie ihre politische Macht – mit Hilfe von eigenen Milizen – auch gewaltsam absichern können.
Zusammengenommen verfestigt all das die Spaltung des Landes und begünstigt die grassierende Korruption. Das konfessionelle Proporzsystem stabilisiert die Macht der politischen Elite und reduziert die Chancen politischer Opposition jenseits der konfessionell orientierten Lager auf ein Minimum.
Welchen Einfluss spielt Syrien im Libanon?
Seit dem Bürgerkrieg war das syrische Regime de facto Protektoratsmacht im Libanon. Erst nach der Zedernrevolution 2005 zog sich die syrische Armee aus dem Libanon zurück. Die politischen und wirtschaftlichen Verbindungen zwischen den beiden Ländern sind bis heute eng.
Der libanesische Präsident Michel Aoun ist dem pro-syrischen Lager zuzurechnen und wird von der Hisbollah unterstützt, deren bewaffnete Einheiten Syriens Assad-Regime im syrischen Bürgerkrieg unterstützt. Der Libanon ist für Syrien derzeit die wichtigste Verbindung in die Welt, weshalb auch die libanesische Wirtschaft von Syrien-Sanktionen in Mitleidenschaft gezogen wird.
Seit 2011 sind zudem mindestens 1,5 Millionen Syrer*innen in den Libanon geflohen, von denen eine überwältigende Mehrheit bis heute im Libanon geblieben ist – aus Angst vor Verfolgung durch das Assad-Regime und aufgrund wirtschaftlicher Schwierigkeiten. Wie die rund 270,000 palästinensische Flüchtlinge, die teilweise seit 1948 im Land leben, werden syrische Flüchtlinge im Libanon massiv diskriminiert. Sowohl palästinensische als auch syrische Geflüchtete beteiligen sich aktiv an den seit Oktober 2019 nicht abebbenden Protesten.
…und die Hisbollah und andere Milizen?
Nach dem Bürgerkrieg durfte die Hisbollah als einzige Miliz ihre Waffen behalten – als „Widerstand“ gegen das benachbarte Israel. Durch ihre Dominanz in den schiitischen Hochburgen des Libanon gilt sie als „Staat im Staate“, sie verfügt auch über ein eigenes Sozialsystem inklusive Krankenstationen, wodurch sie sich Rückhalt in der zunehmend verarmenden Bevölkerung sichert. Mit rund 25.000 Kämpfern und bis zu 30.000 Reservisten gilt die Miliz als mächtigster nicht-staatlicher bewaffneter Akteur der Welt. Politisch verbündet ist sie mit der ebenfalls schiitischen AMAL-Bewegung.
Aber auch zahlreiche andere System-Politiker*innen waren im Bürgerkrieg selbst militärische Führer*innen und Warlords. Auch Präsident Michel Aoun und die Zukunftsbewegung des ehemaligen Ministerpräsidenten Saad Hariri verfügen über alte paramilitärische Netzwerke.
Die überkonfessionelle libanesische Armee gilt hingegen als militärisch schwach und ineffizient – jedenfalls schwächer als die Hisbollah-Miliz. Einige Beobachter*innen fürchten deshalb, dass der Libanon bei wachsenden Spannungen in einen neuen Bürgerkrieg abrutschen könnte.
Der Libanon galt als „Schweiz des Nahen Ostens“, warum fürchten viele Menschen im Libanon inzwischen, hungern zu müssen?
Korruption und Misswirtschaft haben das Vertrauen in die libanesische Wirtschaft massiv untergraben. Das Land war lange Zeit abhängig von ausländischem Kapital, das mit hohe Zinsen angelockt wurde. Nicht zuletzt die – Schätzungen zufolge – 8 bis 12 Millionen Auslands-Libanes*innen (bei lediglich rund 4 Millionen Bürger*innen im Land) hielten das Land, in dem nahezu nichts produziert, dafür fast alles importiert wird, so am Laufen.
Inzwischen gilt der Staat als bankrott und kann seine Schulden nicht mehr bedienen, was wiederum das libanesische Bankensystem zum Einsturz brachte. Zeitgleich schafft der Staat es aber auch nicht, die vom Internationalen Währungsfonds geforderten Reformen umzusetzen.
Hinzu kommt eine krasse Ungleichheit im Land: Während die Mikati- oder die Hariri-Familien über Milliardenvermögen verfügen, lebte bereits im September 2019 ein Drittel der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. Seit dem Staatsbankrott und der Covid-19-Krise, die das Land hart getroffen hat, gilt inzwischen schon die Hälfte der Bevölkerung als arm – darunter die große Mehrheit der syrischen Flüchtlinge.
Schließlich kommt hinzu, dass der Hafen von Beirut, der zentrale Importhafen des Landes, bei der Explosion schwer beschädigt wurde.
Was hat die tödliche Explosion im Hafen von Beirut mit der Politik des Landes zu tun?
Über Jahre hinweg lagerten hochexplosive Stoffe ungesichert im Hafen. Die Justiz wusste davon, die Hafenverwaltung wusste davon, selbst der Präsident war informiert. Trotzdem ist nichts passiert, um die Chemikalien zu sichern. Braucht es mehr, um eine ineffiziente Verwaltung und eine unfähige Regierung zu beschreiben?
Was sind die (konkreten) Forderungen der Protestierenden?
Wie der Weg zu umfassenden politischen Strukturreformen aussehen kann, ist unklar. Viele verlangen zunächst eine internationale Untersuchung, um die Verantwortung für die Explosion zu klären. Das Vertrauen, dass sich die eigene Justiz mit der politischen Elite anlegen würde, ist Null.
Schnelle Neuwahlen nach dem Rücktritt der Regierung versprechen kaum Möglichkeiten der Erneuerung. Ohne neues Wahlsystem kann das konfessionell-klientilistische Proporzsystem kaum überwunden werden. Vielen scheint eine Regierung aus Technokraten der einzige Weg, um in den nächsten zwei bis drei Jahren die Korruption zu bekämpfen, die Wirtschaft zu reformieren und die Grundlagen für demokratische Neuwahlen zu schaffen. Jenseits der realpolitischen Forderungen gibt es viel Unklarheit und Diskussionsbedarf. In einem ist sich die libanesische Zivilgesellschaft jedoch einig: Unter dem Motto „Alle heißt Alle“ verlangen die wütenden Protestierenden eine vollständige Ablösung der politischen Elite.
Adopt a Revolution unterstützt die kritische libanesische Zivilgesellschaft in ihren Protesten – und leistet Soforthilfe nach der Hafenexplosion in Beirut. Helfen Sie mit, unterstützen Sie den demokratischen Aufbruch im Libanon mit Ihrer Spende!