UN-Hilfskonvois passieren den Grenzübergang Bab al-Hawa im Nordwesten Syriens am 6. Januar 2022

UN-Hilfen für Syrien: Russlands Drohgebärden und ihre Folgen

Der UN-Sicherheitsrat stimmt am 10. Juli über eine UN-Resolution ab, die auch über den Stichtag hinaus die grenzüberschreitende UN-Hilfe für Nordwest-Syrien ermöglichen soll. Russland droht diese mit einem Veto zu stoppen. Was wäre die Folgen und was sind die Optionen?

UN-Hilfskonvois passieren den Grenzübergang Bab al-Hawa im Nordwesten Syriens am 6. Januar 2022

Es war zu erwarten, jetzt ist es offiziell: Russland droht, die Lieferung humanitärer UN-Hilfe über die türkische Grenze nach Nordwest-Syrien zu stoppen. Der dafür letzte nutzbare Grenzübergang Bab al-Hawa war in den vergangenen zwei Jahren der einzige Zugang für Hilfsgüter der Vereinten Nationen nach Idlib. Die entsprechende UN-Resolution, die solche grenzüberschreitenden Hilfslieferungen erst möglich macht, läuft am 10. Juli aus und muss bis dahin im UN-Sicherheitsrat verlängert werden. Russland kann das mit einem Veto verhindern. Im vergangenen Jahr konnte das durch intensive Verhandlungen und einigen Zugeständnissen in letzter Sekunde abgewendet werden. Jetzt wirft Russland den westlichen Staaten vor, sich nicht an die Bedingungen gehalten zu haben.


“Der Westen hat nicht alle Zusagen umgesetzt, die er vor einem Jahr in Bezug auf die Durchführung von Wiederaufbauprojekten gemacht hat. Deshalb werden wir wahrscheinlich die Streichung des grenzüberschreitenden Hilfssystems in Erwägung ziehen”, sagte der russische Sondergesandte für Syrien, Alexander Lawrentjew, nach Angaben des russischen Mediums Sputnik. Auch seien die Sanktionen gegen das Assad-Regime nicht gelockert worden. Deshalb sei es laut Lawrentjew an der Zeit die von der UN bereitgestellten humanitären Hilfen über Damaskus laufen zu lassen.

Das wäre eine fatale Entscheidung für ca. vier Millionen Menschen, die mittel- und unmittelbar von den Hilfslieferungen abhängig sind. Dass diese jemals Idlib erreichen würden, ist unwahrscheinlich. Denn bereits jetzt wird ein großer Teil der für Syrien bestimmten UN-Hilfen über Damaskus abgewickelt. Und das Assad-Regime wiederum sorgt dafür, dass diese nur bei ihm genehmen Bevölkerungsteilen ankommt. Idlib, das von extremistischen Rebellen und Assad-Gegnern kontrolliert wird, gehört nicht dazu. Die internationalen Hilfen könnten dann vom Assad-Regime als Druckmittel verwendet, um unliebsame Oppositionsgebiete wieder unter Regime Kontrolle zu zwingen. Aus menschenrechtlicher Sicht ist es daher nicht vertretbar, dem Assad-Regime die Kontrolle über alle für Syrien bestimmten UN-Hilfen zu überlassen.

Und jetzt?

Damit die Region nicht vollständig von den lebensrettenden Hilfslieferungen abgeschnitten wird, müssten sich Hilfsorganisationen vor Ort einen neuen Partner suchen, um die Sicherheit ihrer Hilfen zu gewährleisten. Einige Organisationen werden tatsächlich die Hilfen über Damaskus verteilen unter der Zusicherung von „unabhängigen Akteur*innen*. Damit bekäme das Assad-Regime aber faktisch die Kontrolle über Nordwestsyrien zurück, selbst wenn Hilfen wirklich an die betreffenden Regionen verteilt werden könnten.

Zumindest die EU-Organisationen werden sich mutmaßlich jedoch weigern mit Assad zusammenzuarbeiten. Stattdessen könnten sie auf die Hilfe der Türkei setzen, die einige Gebiete Nordsyriens bereits kontrolliert und ein großes Interesse hat, ihre Machtstellung auszuweiten, daher wird sie sich als Partnerin für die Verteilung der Hilfsgüter anbieten. Aber auch dieses Szenario hätte einen Preis: Denn die Türkei könnte ihre Hilfe als Verhandlungsmasse nutzen, um die geplanten Massenabschiebungen syrischer Geflüchteter aus der Türkei in kurdische Regionen im Nordosten Syriens zu legitimieren. Dieser Schritt ist bereits in konkreten Planungen – eine unter anderem dazu anvisierte Militärinvasion steht kurz bevor und zwingt die Selbstverwaltung in eine Kooperation mit Assad. Dadurch könnte das Regime wieder einen Einfluss in die mehrheitlich kurdisch geprägten Gebiete gewinnen.

Die EU muss Farbe bekennen

Verlierer sind in allen Szenarien die vier Millionen Menschen vor Ort, die zwischen den (geo-) politischen Machtspielen der Staaten aufgerieben werden. Die Geberländer müssten deshalb ihre humanitäre Unterstützung für Millionen Bedürftige in Nordwest-Syrien unabhängig von der UN als einen „Akt des Ungehorsams“ organisieren. Denn ohne humanitäre Hilfe haben die meisten keine Überlebenschancen. Klar ist aber: Ohne die Türkei wird es nicht gehen. Deshalb muss die EU auch hier klare Kante zeigen: Anstatt Erdogans Massenabschiebungsphantasien im Austausch von humanitärer Hilfe mitzutragen, muss der EU-Türkei-Deal in die Waagschale geschmissen werden. Wenn Europa seine Grenzen für syrische Geflüchtete öffnet, könnte sie Erdogan Macht entziehen und den Menschen echte Hilfe in der Not bieten.


WAS SIND DIE “CROSS BORDER RESOLUTIONS”?

Ohne Erlaubnis der Regierung des jeweiligen Landes darf die UN nicht einfach Hilfsgüter liefern, so schlimm eine Notlage auch ist. Daher verabschiedete der UN-Sicherheitsrat 2014 die Resolution 2165, die es der UN trotz mangelnder Zustimmung des Assad-Regimes erlaubte, bestimmte Grenzübergänge zu nutzen, um von dort aus erreichbare Gebiete mit humanitärer Hilfe zu beliefern. Diese Resolution läuft jeweils ein Jahr und muss dann neu ratifiziert werden. Das Veto eines Staates reicht, um das zu verhindern.