Syriens Schock-Strategie

Nach der massenhaften Vertreibung ganzer Gemeinschaften aus zahlreichen syrischen Städten und Ortschaften erlaubt nun ein neues Gesetz dem Assad-Regime, Eigentum zu konfiszieren, die Vertreibung damit dauerhaft zu machen und die Demografie des Landes radikal zu verändern. Von Leila al-Shami.

Nach sieben Jahren der Unterdrückung und des Krieges lebt mehr als die Hälfte der syrischen Bevölkerung nicht mehr im eigenen Zuhause. Die meisten sind innerhalb des Landes auf der Flucht, und beinahe sechs Millionen haben das Land auf der Suche nach Asyl verlassen. Der Traum, eines Tages nach Hause zurückzukehren, könnte durch ein neues Gesetz unmöglich werden.

Am 2. April erließ das syrische Regime das sogenannte Gesetz Nr. 10. Das Gesetz autorisiert die Bildung neuer lokaler Verwaltungseinheiten (in Bezirken, Städten und Kleinstädten) zur Registrierung von Grundstücken und Häusern in ihrem Zuständigkeitsbereich. Privateigentümer haben 30 Tage Zeit, sich zu registrieren und einen Eigentumsnachweis zu erbringen. Halten sie dies nicht ein, wird das Eigentum ersatzlos durch den Staat konfisziert.

Das Regime beschrieb das Gesetz als ein Mittel zum Wiederaufbau informeller Slums und vom Krieg zerstörter Gebiete. Doch voraussichtlich wird es vor allem ehemals von Rebellen kontrollierte Gemeinden betreffen, um eine Rückkehr der vertriebenen Einwohner zu verhindern. Diese informellen Arbeiterviertel (sowie benachteiligte ländliche Gebiete) waren Brutstätten des Widerstands und wurden deshalb durch die unablässigen Luftangriffe des Regimes pulverisiert.

Risiko Rückkehr

Viele vertriebene Syrer*innen haben Angst, in die vom Regime kontrollierten Gebiete zurückzukehren. Die Registrierung ihrer Eigentümer ist an Sicherheitsüberprüfungen gebunden. Zahlreiche Berichte der letzten Monate erzählen von Wiederkehrern, die gefangengenommen, gefoltert oder zwangsrekrutiert wurden. Im letzten Monat veröffentlichte eine pro-oppositionelle Nachrichten-Webseite eine Datenbank mit 1,5 Millionen Syrer*innen, die vom Geheimdienst gesucht werden. Die Liste ist von 2015 und seitdem vermutlich erweitert worden. Verwandte derer, die sich auf der Liste befinden, könnten ebenfalls in Gefahr sein. Immer wieder hat das Regime seine Vergeltung an Familienangehörigen angeblicher Dissidenten ausgeübt. Einige Hauseigentümer könnten mittlerweile im Gefängnis, getötet oder verschwunden sein.

Selbst für die, die das Risiko der Wiederkehr auf sich nehmen, verbleiben Hindernisse. Viele Häuser wurden ohne Erlaubnis gebaut, als urbane Gebiete sich rapide ausweiteten und korrupte Offiziere allzu oft gegen ein Schmiergeld ein Auge zudrückten. Viele, die legal ein Haus bauten oder kauften, haben keine Papiere mehr. Es gibt weitere Berichte über die gezielte Auslöschung von Eigentumsnachweisen durch Regierungskräfte in einer Vielzahl von Gebieten, die sich wieder unter staatlicher Kontrolle befinden. So brannte im Juli 2013 das Grundbuchamt in Homs ab, was allem Anschein nach einem willkürlichen Angriff geschuldet war. Ähnliche Ereignisse gab es in Zabani, Darayya und Qusayr. Darüber hinaus flohen viele Menschen aus ihren Gemeinden, ohne Nachweise über Eigentümer oder andere Dokumente (wie Geburts-, Sterbe- und Heiratsurkunden) mitzunehmen, oder aber es war nicht möglich, diese im Exil überhaupt ausstellen zu lassen.

Das Gesetz Nr. 10 wird von vielen als ein Versuch angesehen, demografischen Wandel herbeizuführen. Oftmals wird es mit dem israelischen Gesetz über den „Besitz Abwesender“ von 1950 verglichen, das das Beschlagnahmen von Eigentum vertriebener Palästinenser durch die israelische Regierung ermöglichte. Auf diesem Weg möchte der Staat Eigentum widerständiger Gemeinschaften in die Hände von Staatstreuen überführen.

Kapitulation oder Auslöschung

Immer wieder wurden ganze Gemeinschaften, die gegen den Staat rebellierten, zu einer Umsiedlung gezwungen. Es passierte in Madaya, Zabadani, Darayya, Moadamiyya, Ost-Aleppo und jetzt in Ost-Ghouta, wo Zehntausende ihr Zuhause verloren. All diese Fälle laufen nach einem ähnlichen Muster ab: Die widerständige Gemeinschaft soll durch die Abschottung von Lebensmitteln und Medikamenten ausgehungert werden, während unablässig Wohngebiete, landwirtschaftliche Flächen (wenn sie existieren) und grundlegende zivile Infrastrukturen aus der Luft angegriffen werden. Der hungernden und traumatisierten Bevölkerung, die vielleicht seit Jahren Widerstand geleistet hat, wird ein Ultimatum gestellt – Kapitulation oder Auslöschung. Erzwungene Kapitulationen werden begleitet von erzwungenen Umsiedlungen; ein Kriegsverbrechen und ein Verbrechen gegen die Menschheit. Das Gesetz Nr. 10 ist Teil der Vertreibung – der Teil, der sie dauerhaft werden lässt.

In einigen Fällen wurden die Häuser der Vertriebenen bereits abgerissen. 2014 berichtete Human Rights Watch über unautorisierte Abrisse von tausenden von Häusern in oppositionellen Hochburgen in Damaskus und Hama, wo ganze Viertel ausradiert wurden. In manchen Gebieten wurden die Häuser der Ausquartierten an Regimetreue übergeben. Dies ist oftmals an bestimmte Konfessionen gebunden. Oppositionelle Gemeinschaften schlossen oftmals sunnitische Muslime mit ein, während Minderheiten dem Regime treu geblieben waren. Als die Einwohner der Altstadt von Homs im Jahr 2014 vertrieben wurden, kamen Berichte auf, dass alawitische und schiitische Loyalisten aus den nahegelegenen Dörfern in die freigewordenen Häuser der Sunniten überführt wurden. Auch fremde Siedler zogen ein. Auch sollen Eigentümer an durch den Iran unterstützte schiitische Milizionäre und ihre Familien aus dem Irak und dem Libanon übergeben worden sein. Weiterhin gäbe es Aktenfälschungen, die die Übergabe von Häusern an neue Eigentümer ermöglichen. Das neue Gesetz sieht vor, dass, sollten Eigentumsnachweise fehlen, ein Eigentümer den Nachweis mit einem offiziellen Ausweisdokument beantragen kann. Neuere (unbestätigte) Berichte behaupten, dass das Regime tausende syrische Pässe für iranische, afghanische und pakistanische Kämpfer ausgestellt hat.

„Syrien ist für die, die es verteidigen“

In einer Rede aus dem Jahr 2015 verkündete Assad, „Syrien ist nicht für die, die einen Pass besitzen oder dort leben; Syrien ist für die, die es verteidigen“. Durch den Transfer von Eigentümern in die Hände von Loyalisten sichert das Regime sich Rückhalt in Gebieten eines künftigen Reststaates. Sowohl der iranische Staat als auch irakische Bauherren sichern sich Berichten zufolge Land um die Hauptstadt und Homs. Der Iran hofft auf Profite durch den zukünftigen Wiederaufbau und hat darüber hinaus strategische Interessen am Erwerb von Land, insbesondere in den Qalamoun Bergen entlang der libanesischen Grenze, von wo aus eine Verbindung zur Hizbollah ermöglicht wird.

Der Wiederaufbau des Landes – der geschätzt 250 Milliarden Dollar kosten könnte – soll dem Regime Mittel zur Belohnung seiner Verbündeten sein. Schon immer hat das Regime Unterstützer mit Loyalität und kapitalistischer Vetternwirtschaft belohnt, und der Wiederaufbau bietet eine wachsende politische und ökonomische Machtbasis. Im Mai 2015 wurde die Verordnung Nr. 19 erlassen. Hierin wurde lokalen Verwaltungseinheiten ermächtigt, im Namen des Staates steuerfreie Unternehmen zum Wiederaufbau, zur Planung und zum Bau zu gründen. Gemeinsam mit partnerschaftlichen Privatinvestoren werden diese Unternehmen die Immobilienentwicklung verwalten. Dies bildet im Wesentlichen die Basis für einen Transfer öffentlicher Güter in die Privatwirtschaft.

Dieses Modell wurde bereits implementiert. Der Erlass der Verordnung Nr. 66 im Jahr 2012 – die als Vorläufer des aktuellen Gesetzes gilt – ebnete den Weg für die Enteignung von Häusern in zwei informellen Teilen von Damaskus (das Basateen Mezzeh-Viertel und ein Gebiet zwischen Qadam und Darayya). Bewohner wurden mit einer armseligen Entschädigung auf die Straße gesetzt. Bezeichnet wurde es als Gentrifizierungsprojekt zur „Wiederherstellung von Gebieten unbefugten Wohnens und informeller Siedlungen“ zu erstklassigen Wohngebieten mit Einkaufszentren und Parks. Die vom Governorate gegründete Damascus Cham Private Joint Stock Company leitet die Konstruktion mit einem Startkapital von etwa 120 Millionen Dollar. Die Aman Group des Regime-Kumpanen Samer Foz, die im Immobilien- und Lebensmittelsektor tätig ist, ist Partner des Projekts. Als Sohn eines engen sunnitischen Verbündeten Hafez al-Assads ist er über die Zeit des Krieges zu einem der mächtigsten Geschäftsmänner des Landes aufgestiegen. Während viele aus Assads erweitertem Familienkreis sowie der alawitischen Konfession, der er angehört, vom Regime profitiert haben, wurden auch die sunnitischen Wirtschaftsgrößen stets umworben, die umgekehrt von Bashar al-Assads neoliberalen Reformen in der Wirtschaftspolitik profitieren und die Privatisierung vorantreiben.

Der Fall Homs

Eine weitere Person, die von diesen Projekten profitiert, ist Assads Cousin Rami Makhlouf. Durch seine vielseitigen wirtschaftlichen Interessen soll er einst um die 60 Prozent der Wirtschaft kontrolliert haben, und sein Vermögen wird auf Milliarden von Dollar geschätzt. In den Anfängen der Revolution wurden viele Stimmen aus der Bevölkerung, die durch ihn und seine Anhänger verarmt war, gegen ihn gerichtet. Sie forderten soziale Gerechtigkeit, ein Ende der Korruption und politische Rechte.

Gleichzeitig wurde in Homs der Plan angekündigt, durch das Regime zerstörte Gebiete wie die früheren Rebellenviertel Baba Amr und Jobar wiederaufzubauen. In Wirklichkeit lässt das Regime das Projekt ‚Homs Traum‘ wieder aufleben, welches 2011 zu Zwangsräumungen geführt hatte, aufgrund des Widerstands der lokalen Bevölkerung aber eingestellt wurde. Auch ‚Homs Albtraum‘ genannt, ist die Vision des Projekts, sunnitische Areale mit gläsernen Wolkenkratzern, Restaurants und Einkaufszentren zu sanieren. Diese Gebiete im Stadtzentrum waren trotz fehlenden militärischen Nutzens unverhältnismäßig stark bombardiert worden. Einem Bericht des Syria Institute und PAX zufolge ist das Ziel des Projekts „die Umverteilung der Bevölkerung zur Stärkung der physischen Kontrolle über die Stadt durch die regierungsfreundliche alawitische Gemeinschaft“. Durch das Gesetz Nr. 10 können landesweit ähnliche Projekte eingeleitet werden, die dem Regime sowohl Gelder als auch Stabilität bringen können.

Um den Wiederaufbau zu schultern, braucht es ausländische Direktinvestitionen. Ganze Städte wurden verwüstet. Die Länder, die am ehesten einen Vorteil daraus ziehen werden, sind Verbündete des Regimes, wie Russland, der Iran und China, die im vergangenen Jahr bereits zur Internationalen Handelsmesse in Damaskus eingeladen wurden. Diese Länder werden ihre Beihilfen nicht in Menschenrechte oder politische Reformen investieren. Vertreter des Regimes haben bereits angekündigt, dass europäische und amerikanische Firmen nur dann profitieren werden, wenn ihre Regierungen sich für die Opposition gegen das Regime entschuldigen würden. Im Wesentlichen werden die Bemühungen um den Wiederaufbau Vertreter und Verbündete des Regimes bereichern, die für die Zerstörung des Landes verantwortlich sind, während die Macht der Assad Familie und der wirtschaftlichen Elite weiter bestärkt wird.

2011 protestierte die syrische Bevölkerung für Freiheit, Würde und soziale Gerechtigkeit. Keine der Forderungen wurde erfüllt. Stattdessen wurde sie misshandelt und Millionen aus ihrer Heimat vertrieben. Nun bleibt die Frage: Wie viele werden noch ein Zuhause haben, zu dem sie zurückkehren können? Was bedeutet ‚Zuhause‘ überhaupt, wenn ihr Land im Abbild ihres Peinigers wiederaufgebaut wird?


Leila al-Shami ist eine syrische Autorin, Menschenrechtsaktivistin und Co-Autorin von Burning Country: Syrians in Revolution and War (Pluto Press, 2016). Sie twittert als @LeilaShami. Dieser Text erschien zuerst im Onlinemagazin al-Jumhuriya und wurde hier mit freundlicher Genehmigung der Autorin ins Deutsche übertragen.