Am frühen Morgen des gestrigen Donnerstag attackierten Angreifer – mutmaßlich von der internationalen Dschihadistenorganisation ISIS – die syrisch-kurdische Stadt Kobani. Zunächst explodierten mindestens drei Autobomben in der Stadt, anschließen kam es zu Feuergefechten, die aktuell noch anhalten. Nachdem ein Angriff von ISIS auf die Stadt erst im Januar durch bewaffnete kurdische Kräfte mit Unterstützung durch US-geführte Luftangriffe zurückgeschlagen werden konnte und Anfang letzter Woche ISIS auch aus der Grenzstadt Tal Abyad vertrieben werden konnte, greifen die Dschihadisten jetzt offenbar zu offenem Terror gegen die Bevölkerung in Kobani.
Wir haben heute Mittag mit dem Aktivisten Mahmoud von unserem Projektpartner Fraternity Center in Kobani gesprochen. Im Interview beschreibt er die Lage vor Ort.
Wo bist Du gerade und wie ist dort die Lage?
Ich bin an der Grenze zur Türkei – und anders als viele andere habe ich es hinüber geschafft. Auf der syrischen Seite der Grenze warten rund 1.100 Menschen, die sich vor den Kämpfen in Sicherheit bringen wollen – in voller Hitze. Die Grenze ist aber geschlossen, nur Verletzte werden hinüber gelassen, bisher sind 154 Verletzte hier angekommen.
Wie ist die Lage in Kobani selbst?
Es wird noch immer gekämpft, schwerpunktmäßig an vier Stellen. Nach der Explosion von Autobomben haben sich die Terroristen in kleinen Gruppen auf hohe Gebäude zurückgezogen. Von dort schießen sie auf alles, was sich bewegt. Gerade sollen noch drei von ihnen im Mishtanur-Krankenhaus sein, das von Ärzten ohne Grenzen betrieben wird. Es ist eins der höchsten Gebäude, so dass sie von dort auf die halbe Stadt schießen können. Die YPG-Kämpfer haben gerade ein Statement veröffentlicht, wonach 30 ISIS-Kämpfer getötet und zwölf weitere festgenommen wurden. Gestern hieß es, dass sich 60 bis 70 ISIS-Soldaten mit YPG- und FSA-Uniformen getarnt hätten und aus drei Richtungen nach Kobani gekommen sind.
Bislang kann noch niemand sagen, wie viele Menschen getötet worden sind, aber es sind fast nur Zivilisten. Bis heute Mittag wurden 119 Tote begraben, aber viele konnten noch nicht geborgen werden, weil die Leichen in den Häusern liegen. Der Angriff hat so früh stattgefunden, dass viele Menschen noch geschlafen haben, das machen sie im warmen Sommer im Freien auf ihren Dächern. Auch auf den Straßen liegen noch Tote, die wegen der Scharfschützen nicht geborgen werden können. Meine Schätzung ist, dass mindestens 250 Menschen getötet wurden, andere sagen bis zu 500. Die Panik ist groß. Kobani ist eine kleine Stadt, jeder kennt jemanden, der getötet worden ist. Viele Menschen versuchen, sich in der Türkei in Sicherheit zu bringen. Erst in den letzten Wochen und Monaten waren viele von dort zurückgekehrt.
Was ist das Ziel von ISIS, dass sie jetzt die Stadt angreifen?
Es geht ISIS offenbar nicht darum, die Stadt militärisch einzunehmen, sondern nur darum, Terror zu verbreiten. Sie wollen zeigen: Wenn ihr uns angreift wie in Tal Abyad, können wir jederzeit bei euch zuschlagen. Der Angriff war gut vorbereitet, sie sind wohl aus drei Richtungen in die Stadt eingedrungen und einige der Terroristen sprechen auch Kurdisch. Nur so konnten sie die Checkpoints passieren. Es ist das eine, wenn Soldaten getötet werden, aber etwas anderes, wenn inmitten der Stadt auf alles geschossen wird, was sich bewegt.
Mahmoud ist Koordinator des lokalen Fraternity Centers, dessen Arbeit für Frauen- und Menschenrechte Adopt a Revolution unterstützt. Zudem unterstützt das Zentrum den Wiederaufbau der weitgehend zerstörten Stadt. Unterstützen Sie die Arbeit des Fraternity Centers in Kobani mit Ihrer Spende!
Herzlichen Dank für Ihren Beitrag!
Im März schickten uns Mahmoud und seine Kollegen vom Fraternity Center dieses Video, in dem sie hoffnungsvoll auf den Wiederaufbau von Kobani schauten.
