
Es wirkt erst einmal wie ein Neuanfang. In Teilen Syriens, wo das Assad-Regime im Dezember 2024 gestürzt wurde, verspricht eine neue Übergangsregierung Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte. Verhaltensregeln werden verkündet, Verfassungsartikel gegen Folter verabschiedet. Doch hinter den Kulissen ist von Rechtsstaatlichkeit wenig zu spüren. Ein neuer Bericht unserer Partner „Syrians for Truth and Justice“ (STJ) zeigt: Folter, Misshandlung und erniedrigende Behandlung sind auch im „neuen Syrien“ ein großes Problem.
Die Vorwürfe wiegen schwer. In dutzenden Fällen dokumentiert STJ willkürliche Festnahmen, brutale Gewalt gegen Inhaftierte, Demütigungen aufgrund der Konfession. Betroffen sind nicht nur mutmaßliche Assad-Anhänger*innen, sondern auch Rückkehrende, Minderheiten und politische Aktivist*innen – ohne jede Anklage.
„Sie haben mich mit Kabeln geschlagen, bis ich dachte, meine Füße lösen sich auf“,
wird Nour, ein junger Alawit aus Homs, in dem Bericht zitiert. Er sei zuvor gezwungen worden, vor Sicherheitskräften wie ein Tier zu jaulen. Später hätten sie sein Haus geplündert. Wer die genauen Täter sind und in wessen Auftrag sie handelten, ist unklar.
Da im alten Regime vor allem Alawiten in Machtpositionen waren, wird der Hass gegen sie geschürt. Aus der Küstenregion Latakia haben die Aktivist*innen erschütternde Berichte gesammelt. Im Dorf Qurfays soll eine militärische Fraktion der Allgemeinen Sicherheit Männer und Jugendliche – ohne militärische oder politische Verbindungen – verschleppt, sie stundenlang gefoltert und mit dem Tode bedroht haben. Ein Mann wurde gefesselt und tot in einem Olivenhain gefunden, mit deutlichen Folterspuren. Er war Mechaniker. Laut Gerichtsmediziner wurde er stranguliert.
In einem weiteren Fall sei ein junger Mann ohne Verbindung zu bewaffneten Gruppen von Mitgliedern der militärischen Fraktion erst in ihr Hauptquartier verschleppt und von dort in die Marineakademie verlegt worden. Schließlich fand man ihn gefesselt im Viertel Al-Asaliyyeh – stark gezeichnet, körperlich und psychisch völlig erschöpft. Auch der Schulleiter des Dorfes wurde für zwei Stunden entführt, geschlagen und verhört.
Ein alawitischer Zivilist aus dem Viertel al-Qadam in Damaskus, sei dort von einer bewaffneten Gruppe verhaftet worden, zu der auch Männer in Uniform der Allgemeinen Sicherheit gehörten. Sie sollen ihm vorgeworfen haben, ein „Alawitischer Shabiha“ zu sein, also ein Unterstützer Assads. Sie beschimpften ihn und steckten ihn in den Kofferraum eines Fahrzeugs. Auch sein 16-jähriger Sohn wurde festgenommen. Beide sollen getrennt voneinander verhört, geschlagen und mit dem Tod bedroht worden sien. Der Junge kehrte barfuß, zitternd und voller Angst am gleichen Tag zurück – mit deutlichen Spuren von Misshandlungen. Sein Vater kam später so entstellt zurück, dass ihn selbst seine eigene Familie nicht mehr erkennt.
Auch Frauen geraten ins Visier: Auf dem Weg zu einem zivilgesellschaftlichen Workshop sollen Teilnehmende an einem Checkpoint in Homs festgenommen, erniedrigt, geschlagen und ausgeraubt worden sein.
„Wir waren nicht mehr Menschen, nur noch Körper, die sie brechen wollten“,
berichtet eine der betroffenen Frauen. Zu dieser Delegation gehörte auch Raja al-Damaqsi, Generalsekretär der Syrischen Demokratischen Vereinigung. „Unsere Festnahme hatte keinen politischen Hintergrund. Niemand fragte nach unserer Partei oder beschlagnahmte Material. Wir wurden nur festgenommen, weil wir als Drus*innen und Alawit*innen zu den Kurd*innen unterwegs waren – als ob allein unsere konfessionelle Zusammensetzung ein Verbrechen sei.“ Was folgte, war eine Kette schwerster Menschenrechtsverletzungen: Al-Damaqsi soll über neun Stunden lang geschlagen worden sein. Er sei von Einheit zu Einheit weitergereicht und immer wieder misshandelt worden. „Die Schläge begannen am Kontrollpunkt und endeten erst im Gefängnis von Harem. Es war Folter bis an den Rand des Todes – schwere Prügel, ständige Demütigungen.“ Fotos und Videos dokumentieren seine Verletzungen.
In Idlib soll er mit verbundenen Augen zu einem Verhör gezwungen worden sein. Der Vernehmer habe verlangt, dass er eine Videobotschaft aufnehme, in der er sich positiv über die Behandlung äußere – was er schließlich unter Druck getan habe. Die Delegation sei nur dank persönlicher Kontakte al-Damaqsis in mehreren Provinzen freigelassen worden. Geld, Medikamente, Kleidung, die Brille – sogar die geerbte Uhr seines Vaters habe man entwendet. Die psychischen und physischen Folgen wirken lange nach. Zivilgesellschaftliche Organisationen reichten Klage ein, die Betroffenen wurden forensisch untersucht – jedoch ohne bisherige Konsequenzen.
Neben den durch STJ dokumentierten Zeugenaussagen kursieren zahlreiche Videos in sozialen Medien, die Folter, Misshandlungen und erniedrigende Behandlung von Gefangenen in verschiedenen Regionen Syriens zeigen – teils durch die Allgemeine Sicherheit, teils durch Einheiten des Verteidigungsministeriums. Männer müssen Tierlaute nachahmen, Menschen werden öffentlich durch Sprechchöre erniedrigt, Häftlinge zeigen schwere Verletzungen.
Die Übergangsregierung schweigt.
Zwar existieren Gesetze und Verhaltensregeln, Syrien ist der UN-Anti-Folter-Konvention beigetreten – doch laut STJ wurde bislang kein einziger Fall strafrechtlich verfolgt. Auch die neue Kommission für Übergangsjustiz hat ihre Arbeit noch nicht aufgenommen. Viele Täter agieren in Uniform, im Namen des Staates, oft ohne Folgen.
Dabei gäbe es rechtliche Grundlagen. Da wäre das Gesetz gegen Folter, einen Verhaltenskodex für Sicherheitskräfte, eine Verfassungserklärung mit Menschenrechtsgarantien. Doch all das bleibt wirkungslos, solange die Durchsetzung fehlt.
STJ fordert daher: unabhängige, internationale Untersuchungen aller dokumentierten Fälle, die Suspendierung und strafrechtliche Verfolgung der mutmaßlich Verantwortlichen, uneingeschränkten Zugang für internationale Beobachter*innen zu Haftanstalten, Schutzprogramme für Zeug*innen und Überlebende – und eine echte Beteiligung der Zivilgesellschaft an allen Prozessen der Übergangsjustiz.
Denn wenn eine Regierung das System Assad stürzt, aber dessen Methoden übernimmt oder toleriert, bleibt Wandel Illusion. Der neue Staat muss beweisen, dass er bereit ist, die Täter aus den eigenen Reihen zur Rechenschaft zu ziehen. Sonst bleibt Syrien gefangen im alten Muster: Die Macht wechselt, die Folter bleibt.
Ganzer Bericht zum Download als PDF (EN):