Unsere Partner*innen verteilen Hilfspakete in Camps von Binnenvertriebenen in der Region Idlib.

Wie Erdoğans Geldpolitik die Türkei und Nord-Syrien weiter in die Krise treibt

Warum verliert die türkische Lira immer weiter an Wert? Wie verursacht Erdoğan diese Inflation? Der Blick auf die Türkei und auf die Region Idlib zeigt, wie ein realitätsfremder Chauvinist Millionen von Menschen an den Rand ihrer Existenz bringt.

Unsere Partner*innen verteilen Hilfspakete in Camps von Binnenvertriebenen in der Region Idlib.

Der Verfall der türkischen Lira sorgt weiterhin für Schlagzeilen. Bekam man vor einem Jahr für einen Euro noch 9-10 türkische Lira, liegt der Wechselkurs heute bei 15-16. Tendenz steigend.

Das hat nicht nur Auswirkungen auf die Türkei, sondern auch auf die 3-4 Mio. Menschen, die aktuell in Nord-Syrien in der Region Idlib leben. Schließlich kommen die meisten Produkte und Hilfsgüter aus der Türkei. Das syrische Pfund war schon länger aufgrund der hohen Inflation unbrauchbar geworden, also begann Idlib im Sommer 2020, die türkische Währung zu benutzen.

So zerrüttet Erdoğans expansive Fiskal- und Geldpolitik nicht nur die türkische Wirtschaft, sondern erschwert auch den Alltag der Menschen in Idlib.

Was macht Erdoğans Geldpolitik aus?

Wer sich in der VWL auskennt, wird beim Titel des Beitrags ins Stutzen gekommen sein. Schließlich steht einer Regierung in der Regel nur die Fiskalpolitik zu und die Geldpolitik geht von der Zentralbank aus.

Eine Regierung nimmt Einfluss auf das Wirtschaftsgeschehen, indem sie Steuern und Staatsausgaben kontrolliert. Das ist die Fiskalpolitik. Die Zentralbank macht die Geldpolitik, d.h. sie kontrolliert die Geldmenge und legt den Leitzins fest. So kann sie die Inflation kontrollieren.

Es sollte also nicht Erdoğans Geldpolitik sein, sondern die des Zentralbankchefs – und schon hier liegt das erste Problem. Die türkische Zentralbank hat in den letzten zwei Jahren bereits vier verschiedene Chefs gesehen, weil Erdoğan sie stets austauscht, wenn ihm ihre Politik nicht gefällt. Man kann also durchaus davon sprechen, dass nicht nur die Fiskalpolitik, sondern auch die Geldpolitik von Erdoğan ausgeht. Und der will niedrige Zinsen um jeden Preis.

Warum verliert die türkische Lira an Wert?

Türkische Lira

Niedrige Zinsen führen zunächst dazu, dass Geld leichter verfügbar ist. Konsument*innen kaufen mehr und Unternehmen können sich günstig Geld leihen, um zu investieren. Durch die expansive Politik hofft Erdoğan, die Wirtschaft anzukurbeln.

Allerdings heißt günstiges Geld auch, dass die Währung im Vergleich zu anderen abwertet. Das kann für den Export positive Folgen haben: Ein türkisches Produkt, das 2.000 Lira kostet, kostete vor einem Jahr ca. 200 Euro und heute nur noch ca. 125 Euro.

Umgekehrt heißt es aber auch, dass Importe teurer werden. Das macht sich nicht nur im Supermarktregal bemerkbar, sondern hat wiederum negative Folgen für die Wirtschaft: Wenn Unternehmen von ausländischen Zulieferungen abhängig sind, können zu starke Preissteigerungen die Produktion komplett lähmen.

Hinzu kommt die Last ausländischer Kredite, für deren Tilgung man immer mehr Lira aufbringen muss. Allein dieser Faktor wird viele Insolvenzen nach sich ziehen.

Erdoğan löscht Feuer mit Benzin

Damit erreicht Erdoğan das Gegenteil von dem, was er behauptet zu wollen. Mit niedrigen Zinsen will er die Wirtschaft ankurbeln, doch dieser Plan kann bei hoher Inflation nicht aufgehen. Jede Wirtschaftsstudentin lernt es in den ersten Semestern: Niedrige Zinsen führen auf Dauer zur Entwertung des Geldes. Um diese einzudämmen, müssen sie irgendwann wieder erhöht werden.

So bringt ein völlig realitätsfremder Chauvinist Millionen von Menschen an den Rand ihrer Existenz

Doch er behauptet steif und fest das Gegenteil und schert sich nicht um die Wirtschaftswissenschaften: Es seien nicht die niedrigen, sondern die hohen Zinsen, die Geldentwertung verursachen. Es ist, als würde man versuchen Feuer mit Bezin zu löschen.

Die aktuelle Entwicklung in seinem Land sollte ihn eines besseren belehren. Doch in seinen Augen ist der Grund für den Verfall der türkischen Lira nicht sein eigenes Scheitern, sondern fiese Kursmanipulation und eine globale Verschwörung. Es regt sich zwar bereits großer Protest im Land, doch Erdoğan ist von seiner Fehleinschätzung bisher nicht abzubringen. So bringt ein völlig realitätsfremder Chauvinist Millionen von Menschen an den Rand ihrer Existenz.

Auswirkung der Inflation in Idlib

Eine zu hohe Inflation trifft die Ärmsten am härtesten. Wer ohnehin das ganze Einkommen für den alltäglichen, lebensnotwendigen Konsum ausgibt, hat keinen Spielraum, um Preiserhöhungen durch Verzicht auf weniger lebensnotwendiges auszugleichen. Wer sind also die Ärmsten?

Von den 3-4 Mio. Menschen in Idlib sind ca. 2 Mio. Binnenvertriebene aus anderen Teilen Syriens. Die meisten von ihnen leben in Camps am Existenzminimum. Als wären andauernde Bombardierungen, die Willkür der islamistischen Milizen und die Corona-Pandemie nicht Last genug, steigen nun auch noch die Preise.

Unsere Partner*innen befürchten, dass viele sich bald nicht mal mehr Brot werden leisten können. Es wird zwar viel Landwirtschaft in Idlib betrieben, doch sie reicht nicht mehr aus, um alle dort lebenden Personen zu versorgen.

Deshalb hängt die Versorgung der Bevölkerung in Idlib stark von Waren ab, die aus der Türkei, aus den vom Regime kontrollierten Gebieten oder aus den kurdischen Gebieten kommen.

Unsere Partnerin Khadija im Interview mit der Deutschen Welle

Politisch ist es eine vertrackte Lage, da der Verfall der türkischen Lira nicht in Idlib selbst beeinflusst werden kann. Die Menschen hängen von der Einsicht Erdoğans ab – eine düstere Aussicht. Bis dahin müssen sie versuchen, sich mit Hilfspaketen über Wasser zu halten.


Können Sie die selbstorganisierte Nothilfe unserer Partner*innen in Idlib unterstützen?

Im Zentrum unserer Arbeit steht die Unterstützung politischer Initiativen, die die Perspektive eines demokratischen Syriens am Leben erhalten. Es sind diese Inseln der Hoffnung, aus denen Emanzipation wachsen kann.