Solidarität den Hütten, Zelten und Ruinen!

Für unsere Adopt-a-Revolution-Zeitung 2021/22 haben wir fünf binnenvertriebenen syrische Familien aus unterschiedlichen Landesteilen gebeten, uns ihre Geschichte zu erzählen. Ihre Schicksale und ihre Kraft haben uns bewegt.

Mehr als die Hälfte der syrischen Bevölkerung musste seit 2011 mindestens einmal fliehen. Rund 6 Millionen Menschen flohen ins Ausland, weitere 6 Millionen sind innerhalb Syriens auf der Flucht. Ein großer Teil der Binnenflüchtlinge wohnt in Zelten, Hütten oder Ruinen. Vielen mangelt es an Nahrungsmitteln, sauberem Trinkwasser, Heizmöglichkeiten und medizinischer Versorgung. Zu all dem gibt es umfangreiche Statistiken der Vereinten Nationen und anderer Hilfsorganisationen. Doch sie erfassen stets nur ein Teil des Elends. Wie ist die Lebensrealität der Binnenvertriebenen?

Projektpartner*innen von uns und andere Bekannte haben uns Kontakte zu fünf Familien hergestellt, die aus unterschiedlichen Teilen Syriens fliehen mussten. Wir haben sie gebeten, uns in einer Sprachnachricht ihre Geschichte zu erzählen und uns auch mit einigen Fotos über ihre Lebenssituastion zu berichten. Zum Schutz der Betroffenen haben wir einige der Namen verändert.

»Wie kann ich einem Regime Loyalität schwören, das mir zwei Männer nahm?«

Safa Kamel, 33 Jahre und zweimal verwitwet, floh vor dem Assad-Regime erst nach Ost-Ghouta und wurde von dort mit ihren drei Kindern nach Idlib vertrieben.

Als 2011 die Revolution ausbrach, war ich Studentin in Damaskus. Wir forderten Meinungsfreiheit, das Regime antwortete mit Schüssen, mit Schlägen, mit dem Tod. Zehn Tage nach der Geburt unseres Sohnes wurde mein Mann verhaftet. Er starb unter Folter.

Ich wurde ständig an Checkpoints schikaniert. Ich entschied mich, in das von oppositionellen Gruppen kontrollierte Gebiet Ost-Ghouta zu gehen. Ab 2012 wurde Ost-Ghouta vom Regime belagert. Es gab kaum Essen, kein sauberes Wasser, keinen Strom. Ich engagierte mich in einer selbstorganisierten Bildungsinitiative. Wir richteten Schulen in unterirdischen, vor den Bomben sicheren Räumen ein.

Dieser Beitrag stammt aus der Adopt-a-Revolution-Zeitung Nr. XI

2014 habe ich dann noch einmal geheiratet. Wir beide glaubten an die Revolution, an Freiheit und Menschenwürde, das hat uns sehr verbunden. Wir bekamen zwei Kinder. Anfang 2018 tötete ihn eine Bombe des Assad-Regimes. Kurz darauf wurde mein Bruder von einer Granate getötet, als er anderen zur Hilfe eilte.

Als Ost-Ghouta wenig später vom Regime zurückerobert wurde, hatte ich die Wahl: Entweder schwöre ich einem Regime Loyalität, das mir zwei Ehemänner und meinen Bruder genommen, meine drei Kinder zu Halbwaisen gemacht und uns sieben Jahre lang belagert und bombardiert hat. Oder wir lassen uns nach Idlib abtransportieren.

Hier in Idlib wurden uns Rohbauten ohne Türen und Fenster zu Wuchermieten angeboten. Ständig waren wir krank, weil es kalt war oder das Trinkwasser nicht sauber. Jetzt haben wir diese Wohnung, aber keine Möbel. Die Matratze und der Teppich wurden uns gespendet. Es gibt immer wieder Angriffe und es kann jederzeit sein, dass wir wieder fliehen müssen.

Wenn ich mir etwas für mich und meine Kinder wünsche, dann Sicherheit. Politisch gesehen wünsche ich mir zuallererst, dass alle Kriegsverbrecher zur Rechenschaft gezogen werden. Und zwar von allen Seiten. Und ich wünsche mir, dass es endlich mehr internationale Unterstützung für uns Zivilist*innen und insbesondere für die Kinder hier gibt.


Unserer syrischen Projektpartner*innen leisten Hilfe für Binnenvertriebene wie Safa, Majid oder Suzan. Können Sie mit einer Spende zu ihrer Unterstützung beitragen? Danke!


»Ich sage immer, lasst uns essen, was da ist, und nicht betteln.«

Majid Shukur floh mit seiner Familie vor dem Assad-Regime aus Deir ez Zor nach Myadeen und dann vor dem »IS« weiter ins türkisch kontrollierte Azaz. Hier lebt er mit seiner Frau und seinen jüngeren Kindern in einem Zelt.

Wir sind zu sechst hier, mein Ältester lebt in der Türkei. Er arbeitet in einer Fabrik, von sieben Uhr morgens bis acht Uhr abends. Seine Arbeit finanziert unseren Lebensunterhalt. Vor unserer Flucht hatte ich eine Autowerkstatt, alle meine Kinder konnten zur Schule gehen.

2012 sind wir aus Deir ez Zor vor Angriffen des Assad-Regimes nach Myadeen geflohen. Wir haben dort lange in einer Bauruine gelebt. Dann habe ich wieder eine Werkstatt eröffnen können, die Kinder gingen in die Schule. Aber dann kam Daesh (der »Islamische Staat«). Einmal haben sie meine Frau aus dem Bus gezerrt. Sie wollten, dass sie ihr Gesicht verdeckt. Auf dem großen Platz haben sie Leute hingerichtet. In dieser Zeit habe ich aufgehört, zur Moschee zu gehen.

2017 hat Daesh entschieden, dass alle Männer so ab zwölf oder 13 Jahren Kämpfer werden müssen, meine Söhne wären zwangsrekrutiert worden. Wir sind sofort geflohen. Die ersten Schmuggler haben nicht viel Geld verlangt, Gott habe sie selig. Aber als sie uns an einem Checkpoint an SDF-Kämpfer abgegeben haben, drohten die uns, dass sie uns ins Al-Hol Camp stecken, wenn wir nicht zahlen. Sie haben für jede Person 10.000 syrische Pfund verlangt – und damals war das noch viel wert.

Jetzt leben wir hier in diesen drei Zelten. In diesem Zelt hier kochen wir. Und das hier nennen wir Hamoudis Büro, hier lernt und arbeitet er. Da hinten haben wir uns ein kleines Bad mit Toilette gebaut. Und das Zelt dort hinten, das ist zweigeteilt. In einem wohnen die Mädchen, ich und meine Frau wohnen im anderen Teil. Immerhin zahlen wir hier keine Miete, die Nachbarn sind nett und geben uns Strom.

Mir wurde ein Haus in Afrin angeboten. Ich hätte es angenommen, aber meine Frau sagte, dass es unrecht sei, in Häusern von Vertriebenen zu leben. Wer jetzt in unserem Haus in Deir ez Zor lebt, wissen wir nicht. Sollte es überhaupt noch stehen.

Meine beiden älteren Söhne arbeiten, aber es gibt nur Saisonarbeit. Olivenernte und so etwas. Hamoudi ist jetzt in der 11. Klasse und die Mädchen sind in der 8. und in der 9. Klasse. Es ist ein Geschenk Gottes, dass die Kinder zur Schule gehen. Sie sind sehr fleißig. Aber wer wird am Ende ihre Zeugnisse anerkennen? Die Region hier ist winzig und sogar hier gibt es zwei verschiedene Schulsysteme, eines von der Türkei und eines von der oppositionellen syrischen Interimsregierung, und sie erkennen die Zeugnisse des jeweils anderen nicht an. Bildung ist doch ihre einzige Chance, hier herauszukommen.

Um ehrlich zu sein, also… manchmal essen wir nur trockenes Brot. Das ist leider die Wahrheit. Ich sage immer zu meiner Familie, lasst uns essen, was da ist, und nicht betteln. Manchmal haben wir nur Reis. Aber dann ohne Öl oder Butter. Aber wir haben etwas, wir kommen zurecht.


»Uns bleibt nichts, als an der Familie festzuhalten, an den Kindern.«

Suzan Ehme floh mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern vor oppositionellen Milizen aus Aleppo nach Ra´s al-Ain und von dort vor der türkischen Offensive weiter nach Qamishlo.

In Aleppo hatten wir ein eigenes Haus. Aber im Lauf der Entwicklungen seit 2011 kam fast jeden Monat eine neue bewaffnete Gruppe in unsere Gegend. Ghuraba´ Al-Sham, Ahrar al-Sharqiya, Ahrar Al-Sham, Daesh, Jabhat Al-Nusra und so weiter. Wir wurden ständig rassistisch bedroht, sie beschimpften uns als Atheisten und plünderten unser Haus.

Schließlich wurde mein Mann festgenommen. Sie sagten: „Du bist Kurde. Was machst du hier?“ Nach sechs Stunden haben sie ihn freigelassen und ihm gesagt, dass dies das letzte Mal sei, dass sie ihn laufen lassen.
Dann haben wir das Haus verkauft und sind geflohen. Auf der Flucht
hätte uns fast ein IS-Kämpfer getötet.

Als wir in Ra´s al-Ain ankamen, waren wir krank vor Angst. Aber dann habe ich einen Job gefunden und mein Mann hat einen Minimarkt aufgemacht. Gerade als die Dinge anfingen gut zu laufen, kam 2019 die türkische Offensive, und wir flohen nach Qamishlo.

Unser Haus hier hat nur ein Zimmer, es ist feucht und kalt und die Miete ist purer Wucher. Gerade leben wir allein von dem Geld, das meine Geschwister aus dem Ausland schicken. Fleisch oder Obst können wir uns nur selten leisten. Vor allem können wir hier nicht heizen. Wenn es sehr kalt ist, gehen wir zu unseren Verwandten und wärmen uns dort auf.

Die Kinder gehen wieder in die Schule, aber es sind um die 60 Schülerinnen und Schüler in einer Klasse. Nur die, die vorne sitzen, können dem Unterricht folgen, die dritte Reihe versteht schon nichts mehr. Trotzdem haben wir Essen entbehrt, um ihnen Stifte und Papier kaufen zu können.

Für das Haus kaufen wir nichts mehr. Wir haben kein Vertrauen mehr, dass wir hier irgendwo sicher sind. Uns bleibt nichts, als an der Familie festzuhalten, an den Kindern. Wir sagen immer, dass wir sofort alles liegen lassen werden, sobald den Kindern irgendeine Gefahr droht. Wir wollen nichts mehr als raus aus diesem Land.


»In diesen Zeltplanen sind wir nicht mal vor wilden Tieren geschützt.«

Siliva Sharif floh it ihrem Mann, ihrem erwachsenen Sohn, ihrer Schwiegertochter und ihren Enkeln aus Afrin ins Flüchtlingslager Sardam bei Tel Rifat.

Seit vier Jahren leben wir zu sechst im Zelt. Meine jüngste Enkelin ist erst einen Monat alt. Es ist kalt, die Kinder werden ständig krank. Wenn man einen guten Arzt braucht, muss man nach Aleppo, aber dort sind Checkpoints, dort lassen sie einen nur durch, wenn man viel Geld bezahlt.

Als wir noch in Afrin lebten, hatten wir ein Haus mit drei Zimmern und einem Badezimmer. Mein Sohn konnte zur Schule gehen. Ich träumte davon, dass er Lehrer oder Anwalt werden könnte. Die türkischen Truppen und ihre Milizen haben uns unsere Heimat, unsere Oliven und den Kindern die Zukunft geraubt, und niemand hat sie aufgehalten.

Manchmal hören wir die Geräusche von Kämpfen in der Nähe. In diesen Zeltplanen sind wir nicht mal vor wilden Tieren geschützt. Ich träume von dem Tag, an dem ich in mein Zuhause zurückkehren werde. Das ist es, was ich mir vorstelle – zurückzukehren und neben meiner Schwester zu schlafen und in meinem Haus zu ruhen. Das ist mein Traum und meine Hoffnung.


»Ich kann nur sagen, dass Gott uns beigestanden hat.«

Dunja Al-Salame aus Yarmouk entkam im Rahmen einer der sehr seltenen Notfall-Evakuierungen für Schwerstkranke aus dem vom Assad Regime belagerten Yarmouk undkam so in einen vom Assad-Regime kontrollierten Stadtteil von Damaskus. Yarmouk ist weiterhin stark zerstört.

Ich lebe seit sieben Jahren mit meinem Bruder hier in Qudssaya. Wie viele andere Palästinenser*innen sind wir aus Yarmouk hierher geflohen. In Yarmouk hatte ich im Haus meiner Eltern gelebt und im Amt für Statistik gearbeitet.

Dann kamen die Bomben und die Belagerung. Ich weiß gar nicht, was ich über diese letzten zehn Jahre erzählen soll. Hunger, Dreck, Bombardierungen. Ich kann nur sagen, dass Gott uns beigestanden hat.

Mittlerweile hätte ich Syrien verlassen können, konnte aber meinen Bruder nicht alleine lassen. Er ist 67 und es geht ihm schlecht. Er hängt sehr an mir. Er ist wie ein kleines Kind – wenn ich eine Stunde weg bin, dann wird er nervös. Wir versuchen ihn zu versorgen und zu behandeln.

Wir haben kein eigenes Einkommen. Die Kinder meines Bruders schicken Geld aus dem Exil. Als Palästinenser*innen bekommen wir vom UNRWA etwas Unterstützung. Doch die Preise sind enorm gestiegen, Obst oder Gemüse kaufen wir nicht mehr kiloweise, sondern hier und da eine Tomate. Olivenöl kann ich kaum mehr bezahlen.