In einem Kommentar für Foreign Policy wirft Noah Bonsey von der International Crisis Group der US-Regierung schwerwiegende Fehler in ihrer Syrien-Strategie vor. Unter anderem sei ein großes Problem, dass der Kampf gegen den Islamischen Staat zu sehr im Irak und zu wenig in Syrien geführt werde. Dies könne auf lange Sicht katastrophale Folgen für die gemäßigten Rebellengruppen haben, die von den Vereinigten Staaten unterstützt werden. Deren Kernland seien die strategisch wichtigen Grenzgebiete nördlich von Aleppo, die sie allerdings gleichzeitig gegen die Truppen des Regimes und des IS verteidigen müssen. Sollte der „Islamische Staat“ die Kontrolle über diese Region gewinnen, würde dies eine logistische, humanitäre und psychologische Katastrophe für die Rebellen bedeuten. Die Dschihadisten hingegen hätten sich Zugang zu wichtigen Versorgungsrouten aus der benachbarten Türkei verschafft und zudem einen weiteren Konkurrenten im syrischen Bürgerkrieg geschwächt. Hinzu komme aber noch ein weiteres Problem: die einseitige Fokussierung der Obama-Administration auf den Kampf gegen dschihadistische Gruppen. Auf diese Weise, so Bonsey, werde es dem Assad-Regime ermöglicht, Kräfte im Kampf gegen den IS zu sparen und sich verstärkt auf militärische Aktionen gegen die gemäßigten Rebellen zu konzentrieren, die noch immer der Hauptgegner der Regierung seien. Aus diesem Grund erweise sich die US-Politik als kontraproduktiv.
Um zu einer Befriedung dieses hochkomplexen Konflikts beizutragen, hat die prodemokratische, politikwissenschaftliche Arbeitsgemeinschaft Arab Reform Initiative (ARI) einen Report über mögliche Szenarien für eine Peacekeeping-Mission veröffentlicht. Das an die Vereinten Nationen und die Europäische Union gerichtete Dokument beschäftigt sich mit dem Status quo des syrischen Bürgerkriegs, dessen Folgen für die Region, der Rolle internationaler Akteure und möglichen Voraussetzungen für eine Peacekeeping-Mission. Vier zentrale Schlussfolgerungen wurden dabei gezogen: Erstens könne die humanitäre Krise nicht ohne eine große, auf einer Resolution des UN-Sicherheitsrates beruhenden Intervention beendet werden. Zweitens würden die Kämpfe der bewaffneten und verfeindeten Akteure aller Wahrscheinlichkeit nach auch nach dem Zustandekommen eines Friedensabkommens fortgesetzt. Aus diesem Grund müsse eine solche Vereinbarung mit einer friedenssichernden Intervention im Sinne der UN-Charta (Kapitel VII) einhergehen. Drittens müsse die Friedensmission auf der Ansicht beruhen, dass der syrische Bürgerkrieg die internationale Sicherheit bedroht. Viertens müsse es das grundsätzliche Ziel der Mission sein, einen demokratischen Prozess samt der Erarbeitung einer neuen Verfassung und der Durchführung von Wahlen auf den Weg zu bringen.
Von demokratischen Prozessen kann in der vom IS besetzten, syrischen Stadt Raqqa keine Rede sein. Wie das Leben im sogenannten „Islamischen Staat“ stattdessen aussieht, haben couragierte AktivistInnen des Netzwerkes Raqqa Is Being Slaughtered Silently dem britischen Observer berichtet. Demnach herrsche dort eine Zweiklassengesellschaft. Auf der einen Seite stünde dabei die notleidende Bevölkerung. Dieser mangele es nicht nur an Nahrungsmitteln und Energieressourcen. Sie leide auch unter der grassierenden Inflation sowie den Bombardements durch das Assad-Regime und die gemäßigten Rebellentruppen. Zudem komme es immer wieder zu Exekutionen von Einwohnern durch den IS. Dieser markiere wiederum den anderen, wohlhabenderen Pol der Zweiklassengesellschaft. Die prall gefüllten Kassen der Terrororganisation ermöglichten ihr ein vergleichsweise luxuriöses Leben, was sich beispielsweise an den rund um die Uhr laufenden Stromgeneratoren zeige. Zudem sicherten sich die Dschihadisten die besten Ärzte und das modernste medizinische Equipment, während immer wieder einfache Bürger an Kriegsverletzungen sterben würden. Erst am vergangenen Mittwoch bombardierte das syrische Regime die Stadt, AktivistInnen berichteten von knapp 100 Toten und ebenso vielen Verletzten (FAZ).
Einen weiteren Eindruck vom Leben unter IS in Raqqa liefert ein Beitrag Ahmad Khalils für Syria Deeply. Der „Islamische Staat“ will sämtliche Bereiche des alltäglichen Lebens umformen, so auch das Bildungssystem. Alle weltlichen Fächer wurden durch IS vom herkömmlichen syrischen Curriculum gestrichen, weil sie entweder „Unwahrheiten“ lehrten oder aber Aspekte des syrischen Nationalstaates vermitteln, den IS als künstliches, westliches Geschöpf ablehnt. Eine Lehrerin aus Raqqa berichtet von einem einwöchigen Trainingsseminar durch weibliche IS-Kader, das in einem vormaligen Baath-Kulturzentrum abgehalten wurde. Dort wurde – in Anwesenheit der bewaffneten Frauenbrigade des IS – gelehrt, worauf die Lehrerinnen zu achten hätten: Sei es die Einhaltung der Kleiderordnung, die Aufrechterhaltung der Geschlechtertrennung oder die neuen Lehrinhalte. Die Lehrerin vergleicht den Auftritt des IS in Raqqa mit dem des syrischen Regimes; allein Namen und Sitten hätten sich geändert. Der totalitäre Machtanspruch sei jedoch der Gleiche. Wegen des verstümmelten Curriculums und der Angst, dass IS Schüler in den Krieg zwangsrekrutiert, schickten viele Einwohner Raqqas ihre Kinder nicht mehr zur Schule. Auch die betroffene Lehrerin sah für sich in Raqqa keine Zukunft: Sie lebt mittlerweile im türkischen Gaziantep und lehrt in einer lokalen syrischen Schule.
Unsere Syrien-Presseschau als RSS-Feed abonnieren.
Für eine wöchentliche Zusammenfassung unserer Beiträge im Syrischer Frühling-Blog schicken Sie uns doch einfach eine E-Mail an: newsletter[ätt]adoptrevolution.org.
Dieser Beitrag ist lizensiert als Creative Commons zur freien Verwendung bei Namensnennung. Bei kommerzieller Weiterverwendung bitten wir um eine Spende an Adopt a Revolution.