117.000 Menschen haben die Weißhelme allein in Idlib bereits das Leben gerettet.

„Das Hauptziel sind die Zivilist*innen“

Idlib ist die Zielscheibe des syrischen Regimes. Seit April bombardieren Assads Truppen und russische Kampfjets täglich die Region. Eine Knochenarbeit für die Retter der Weißhelme. Wir haben mit einem von ihnen gesprochen.

117.000 Menschen haben die Weißhelme allein in Idlib bereits das Leben gerettet.

Abu Alnur, du arbeitest von Beginn an bei den Weißhelmen in Idlib. Was umfasst eure Arbeitstätigkeiten?

Viele Menschen glauben, dass sich unsere Arbeit auf Such- und Rettungseinsätze beschränkt. Das ist aber nur ein Teil unserer Arbeit. Wir stellen oft auch die medizinische Grundversorgung sicher, unterstützen Schwangere, helfen bei der Kinderbetreuung, klären über Krankheiten auf und stellen öffentlichen Einrichtungen Hygieneartikel zur Verfügung.   

Das sind ziemlich viele Aufgaben. Wie viele Mitarbeiter*innen habt ihr und wie teilt ihr die Arbeit auf?

Unser Team in Idlib ist ziemlich groß. Grundsätzlich sind wir 24/7 einsatzbereit, daher arbeiten wir in Schichten, damit rund um die Uhr jedes unserer Zentren besetzt ist. Wir müssen oft ganz spontan reagieren, beispielsweise wenn es Überschwemmungen oder Brände gibt. Auch nach dem Zusammenbruch des Waffenstillstands sind wir wieder im Dauereinsatz.

Du hast den gebrochenen Waffenstillstand angesprochen. Wie ist die derzeitige Lage in Idlib insgesamt und wie für euch speziell? 

Abu Alnur ist für die Weißhelme in Idlib pausenlos im Einsatz.

Die Situation ist katastrophal, anders kann man es nicht sagen. Die Zivilbevölkerung vor Ort befürchtet, dass keine Lösung in Sicht ist. Ihr Leiden wurde durch den Zusammenbruch des Waffenstillstands und die fortlaufende Offensive noch verstärkt. Das Leben hier ist geprägt von Bomben und Vertreibung. Was uns Weißhelme angeht: Unsere freiwilligen Helfer sind mit der schrecklichen Situation mittlerweile mehr als vertraut. Das soll aber nicht bedeuten, dass wir uns damit zufrieden geben oder aufgeben. Einige unserer Freiwilligen wurden sieben- oder achtmal aus ihren Häusern vertrieben. Auch wir sind Syrer*innen und Teil der Bevölkerung. Was gerade passiert, wirkt sich auch stark auf uns persönlich aus. Der Druck, der von der Arbeit kommt, belastet uns ständig. Doch uns gibt die Rettung jedes einzelnen Lebens wieder Hoffnung weiterzumachen.

Das syrische Regime und Russland hat euch Weißhelme im Visier. Wie geht ihr damit um?

Das russische Bündnis mit dem Regime hat den systematischen Plan uns entweder physisch oder durch gezielte Hetze in Medien anzugreifen. Wir verfolgen die Medienberichterstattung über uns ganz genau. Aber wir tun das mit dem Ziel, um unsere Teams zu schützen und sicherzustellen, dass unsere Arbeit fortgesetzt werden kann. Wir glauben nämlich, dass diese systematische Aktion darauf abzielt, uns zuerst zu frustrieren und unser größtes Ziel in Frage zu stellen: Nämlich nicht nur Ersthelfer*innen, sondern auch Augenzeugen von den Verbrechen zu sein. Ein Verbrecher hat immer die Zeug*innen im Visier und genau das ist bei Russland und dem Regime der Fall. Sie wissen genau, dass wir all ihre Verbrechen dokumentieren.

Mit welchen Einsatzmitteln arbeitet ihr? 

Wir setzen logistisch alles ein, das wir kriegen können – Fahrzeuge, Werkzeuge und andere Geräte. Aufgrund der Lage in Syrien ist es schwierig, bestimmte Materialien und Ausrüstungsgegenstände über die Grenze zu bringen. Deshalb verfügen wir nur über wenige professionelle Geräte. Hinzu kommt, dass unsere Ausrüstung immer wieder systematisch zerstört wird, eine Neuanschaffung ist oft unmöglich. 

Was fehlt euch gerade in dieser katastrophalen Lage in Idlib besonders?

Die zivilgesellschaftlichen Retter*innen der Weißhelme und ihre Krankenwagen sind Ziel des syrischen Regimes.

Alles. Uns fehlt es einfach an allem. Insbesondere verlieren wir aber alle paar Tage einen Krankenwagen, weil diese systematisch vom Regime angegriffen werden. Das ist besonders dramatisch, weil dabei auch Menschen sterben. Die Verwundeten, die darauf warten, von uns behandelt zu werden und auch unsere Kollegen, die gerade versuchen Menschenleben zu retten. 

Wie vielen Menschen habt ihr bisher das Leben retten können und wie viele von euch haben ihr Leben verloren?

Wir haben bisher mehr als 117.000 Leben gerettet. Die Einsätze belaufen sich auf mehrere Tausend. Die Todeszahl unserer Helfer*innen liegt allein in Idlib bei 268 Menschen.

Wer sind die Opfer in Idlib und was bezwecken das Regime und Russland?

Das Hauptziel sind die Zivilist*innen. Wir haben alle Angriffe gut dokumentiert, um diese Aussage zu stützen. Ich denke, das Kalkül des russischen Bündnisses ist den Willen und Mut der Zivilbevölkerung zu brechen. Das könnte ihnen nachher auf der internationalen politischen Bühne als Verhandlungsinstrument helfen, wenn sich die Zivilbevölkerung “ergeben” hat. Und die Menschen haben natürlich nicht viele Handlungsmöglichkeiten: Fast die Hälfte der Bevölkerung von Idlib wurde mindestens einmal in ihrem Leben vertrieben.  Ich weiß nicht, wie man den Terrorismus gegen fast vier Millionen Menschen glaubwürdig verkaufen kann. Die Welt ist schon verrückt geworden!

Auf welche Schwierigkeiten stosst ihr bei eurer Arbeit?

Unsere zivilen Einrichtungen, beispielsweise Krankenhäuser oder Flüchtlingseinrichtungen, sind oft Ziel von Gruppen, die direkt darauf schießen. Leider haben wir davor kaum Schutzmöglichkeiten. Ich würde aber sagen, dass die Zivilbevölkerung uns beschützt und zwar durch das Verhältnis von Liebe und Vertrauen, das sie uns in Syrien geschenkt hat. Das ist das Schutzschild für unsere Freiwilligen.

Wie können Menschen außerhalb von Syrien euch in eurer Arbeit unterstützen? 

Im Kriegsgebrüll ist jede einzelne Stimme wichtig. Die Menschheit sollte uns Syrer*innen bei diesen militärischen Attacken durch eine Supermacht wie Russland nicht alleine lassen. Diese Verbrechen dürfen nicht mit einem Schweigen beantwortet werden. Stattdessen muss auf jede erdenkliche Weise Druck gemacht werden, um weitere Opfer zu verhindern. Wir sorgen weiterhin dafür, dass Menschenleben gerettet werden und bitten immer wieder um Unterstützung von Menschenrechtsvertreter*innen. Wir verlangen wirklich nicht viel. Wir möchten nur, dass die fundamentalen Rechte internationaler Konventionen garantiert werden. Sie sind wie Wasser und Luft – Dinge, die nicht verloren gehen dürfen. Und wenn wir sie verlieren, bedeutet das den Tod. 

In Bezug auf die Logistik verfügen wir über eine Fundraising-Seite, die finanzielle Transparenz durch legitime Mittel und Überwachung gewährleistet. So wird sichergestellt, dass Spenden sicher ankommen. Vor allem haben wir aber auch Privatspender*innen auf der ganzen Welt, die an unsere Arbeit und an Menschenrechte glauben. Jede 1-Dollar-Spende reicht aus, um uns wissen zu lassen, dass es Menschen gibt, die immer noch daran glauben, dass Syrer*innen das Leben verdienen.