Erbin, Damaskus. 23.08.2013
Verendete Schafe in Erbin, östliches Ghouta.

„Ich konnte die Katastrophe nicht glauben“

Erinnerung an den 21. August 2013.

Erbin, Damaskus. 23.08.2013
Verendete Schafe in Erbin, östliches Ghouta.

Hasan Khalid, 25, arbeitet als Medienaktivist im Komitee von Erbin. Vor Beginn des Aufstands gegen die Assad-Diktatur studierte er in Damaskus Architektur. Am 21. August 2013 wurde er Zeuge des massiven Chemiewaffen-Angriffs, bei dem über 1.300 Menschen ums Leben kamen. Insbesondere Kinder starben umgehend an der Wirkung des Nervengifts Sarin. Ein Jahr nach dem Angriff schildert er seine Erinnerungen.

Der Beschuss auf Ghouta

Am Tag des Massakers wurde ich um ungefähr drei Uhr morgens wach. Es war schwül und es lag ein Geruch von Gras in der Luft, den ich nicht zuordnen konnte. Erst als die Nachricht zu uns vordrang, dass Giftgas in großem Maßstab eingesetzt worden war, verstand ich den Geruch. Seit dieser Nacht wache ich immer um diese Zeit auf.

Schon vorher hatte das Regime chemische Waffen eingesetzt, allerdings in kleineren, begrenzten Gebieten an der Front. Damals gab es einige leichtere Verletzungen. Aber dieser Tag war anders. Viele Leute strömten auf die Straße, als sich die Nachricht vom Giftgasangriff verbreitete, denn sie wollten helfen. Doch die Freiwilligen hatten keine Ahnung, wie sie mit den Verletzungen durch chemische Kampfstoffe umgehen sollten, und wussten auch nicht, wie sie sich selbst schützen konnten. Selbst im provisorischen Krankenhaus von Erbin wurde schnell deutlich, dass es keine ausreichenden Möglichkeiten gab, die ungeheure Zahl an ganzen Familien, an Kindern, Frauen und Alten zu versorgen.

Das Verstehen der Katastrophe

Ich erinnere mich an lange Momente, die ich vor dem Krankenhaus stand, einfach nur zuschaute und die Katastrophe nicht glauben konnte. Waren all diese Kinder wirklich gerade gestorben? Einige der Erwachsenen kamen wieder zu Bewusstsein, nachdem sie aus dem Gefahrengebiet waren, aber von den Kindern überlebten nur die wenigsten. Ihre Gesichter färbten sich violett und es war ein stiller Tod, als würden sie einfach nur friedlich schlafen.

chem1Es war nicht das Zerbersten der zarten Körper, wie bei den Explosionen der Granaten und Geschosse. Normalerweise ist der Anblick von Verwundeten beängstigend, wegen des vielen Bluts und der verwundeten Körperteile. Doch es gab nichts dergleichen, nur die riesige Zahl an Toten war beängstigend und die durchdrang die ganze Region von Ost-Ghouta. Denn auch Sanitäter, Krankenschwestern und Ärzte starben, weil das giftige Gas in der Kleidung der Verletzten zu ihnen getragen wurde und das Gift an ihren Körpern klebte. Ich habe in der folgenden Nacht nicht schlafen können. Erst mit dem Beginn des nächsten Tags begann ich zu verstehen, was geschehen war, und mein Gehirn begann das ganze zu akzeptieren.

Niemand hat sich wirklich für die Opfer interessiert

Wir hatten es mit einer ungeheuren Menge an Leichen zu tun. Niemand kannte ihre Identität, weil sie aus den benachbarten Orten zu uns gebracht wurden. Sie bekamen jeweils eine Nummer, aber wir mussten sie schnell begraben, weil es in der Sommerhitze außer etwas Eis keine Kühlung ab. Gemeinsam mit einer Gruppe von AktivistInnen fotografierte ich alle diese Gesichter. Sonst machen wir das für die Medien, aber diesmal vor allem, um im Nachhinein die Identität der Begrabenen feststellen zu können.

Auf uns Medienaktivisten prasselten die Anrufe von arabischen und internationalen Presseagenturen ein und wir wurden über alle Aspekte des Massakers befragt. Doch schon die Art wie sie fragten, gab mir das Gefühl, dass für sie das alles nur ein Medienspektakel war. Die Medien würden ein wenig Lärm machen und nach ein paar Tagen würde die Welt das ganze wieder vergessen. Niemand fragte nach der Frau auf einem der Bilder, die zwischen den Leichen nach ihrer Tochter suchte, niemand hat je nachgefragt, ob sie sie gefunden hat oder nicht.

Viele Bilder habe ich nie mehr aus dem Kopf bekommen. Es sind Bilder, die ich schlimmer finde, als die Bilder der nebeneinander aufgebahrten Leichen. Als ich am nächsten Tag in das Gebiet ging, wo das Giftgas niedergegangen ist, waren die Viertel menschenleer. Keine Vögel, keine Katzen, keine Blumen – nur der Tod. Ich machte ein Bild von einem Haus, in dem noch Kleidung an der Wäscheleine hing. Niemand würde mehr zurückkommen, um sie zu tragen. Und der Kanarienvogel daneben lag tot in seinem Käfig.

Einer der Überlebenden erzählte mir, dass seine gesamte Familie gestorben sei, auch seine Verlobte. Eine andere ganze Familie schlief ein und blieb schlafend tot an ihrem Platz. Niemand hätte sie je gefunden, hätten die Leichen nicht nach ein paar Tagen angefangen zu stinken. Ich habe auch die Überreste der Raketen gesehen, mit denen das Giftgas abgeschossen wurde, und habe mich gefragt: Warum wurdet ihr gebaut? Nur um Unschuldige zu töten?

Das, was wir tun konnten, war den Nummer Namen zuzuordnen

In den Wochen nach den Angriffen traf ich mit anderen AktivistInnen zahlreiche Überlebende, die nach Angehörigen suchten und zeigte ihnen meine Fotos. Alle, die jemanden vermissten, versuchten ihre Geliebten zu identifizieren, so dass wir den Nummern auch Namen zuordnen konnten. Viele Väter weinten um ihre Familie – und das in einer Gesellschaft, in der Männer sich eigentlich nie trauen, öffentlich zu weinen.

In den Tagen nach dem Anschlag erwartete ich, erwarteten alle in meinem Umfeld eine ernsthafte Reaktion der internationalen Gemeinschaft. Wir waren uns sicher, dass etwas passieren musste. Doch irgendwann wurde klar, dass selbst für dieses nicht zu übersehende, unmenschliche Verbrechen niemand zur Verantwortung gezogen würde. Da wurde mir klar, dass sich erst recht niemand für all die kleinen Verbrechen interessieren wird, die wir mit unserem Komitee jeden Tag dokumentieren. Wir wurden von der Welt einfach vergessen und übersehen.