Vor nicht allzu langer Zeit wurde eines der größten AktivistInnen-Netzwerke Syriens, das sich gegen die Herrschaft des Assad-Regimes stellte, von einer jungen Frau angeführt. Eine junge Frau mit blauen Augen und unverhülltem, blonden Haar; überzeugt säkular; fließend in Englisch und mit einem Abschluss in Jura. Jedoch gab Razan Zaitouneh nichts darauf, diese „Qualitäten“ zur Schau zu stellen oder gar eine internationale Berühmtheit zu werden. Ganz im Gegenteil: Razan glaubte an die Universalität von Freiheit und Menschenrechten. Allerdings vertrat sie die Ansicht, dass diese Werte nur auf lokaler Ebene zum Leben erweckt werden können.
Von Razan hörte ich zum ersten Mal im Jahr 2005. Sie hatte zusammen mit nur wenigen MitstreiterInnen an einer Demonstration teilgenommen. Wenig später kursierten bereits Geschichten über ihren außergewöhnlichen Mut: Razan Zaitouneh hatte ihre Stimme gegen die Familie Assad erhoben, als die Mehrheit der SyrerInnen bereits bei der bloßen Erwähnung des Namens Assad vor Angst zusammenschreckte. Sie hatte die bloße Wahrheit ausgesprochen – zu einer Zeit, als ältere Oppositionelle und die meisten internationalen Beobachter sich mit vagen Forderungen nach „Reformen“ oder „allmählichem Wandel“ begnügten.
Als sich dann 2011 die ländlichen Gebiete Syriens gegen das Regime erhoben, zögerte Razan daher keine Minute, sich dieser Sache anzuschließen. Zusammen mit ihrem Ehemann Wael Hammadi und unzähligen alten wie neu hinzugewonnenen FreundInnen hatte sie rasch das ansehnliche Netzwerk der „Lokalen Koordinationskomitees“ (LCCs) aufgebaut, das sich über circa 50 verschiedene Orte des Landes erstreckte.
Die LCCs organisierten die Demonstrationen gegen das Regime und hielten sie filmisch fest; sie dokumentierten die wachsende Zahl der Toten, der Verletzten und der Verschwundenen; sie begannen damit, humanitäre Hilfe für die vertriebenen Familien zur Verfügung zu stellen und zu koordinieren. Ebenso wurde innerhalb der LCCs ein politisches Komitee gewählt, das alle Belange der syrischen Revolution debattieren sollte. Kurz gefasst: Die LCCs boten einen detaillierten Entwurf für ein post-Assad-Syrien – für ein wahrhaft demokratisches wie pluralistisches Syrien.
Barbarische Unterdrückung
Wir erlebten und erschufen alle Aspekte, aus denen wahrhafte Revolutionen gemacht sind. Wir, die entweder in Syrien persönlich am Geschehen teilnahmen oder von außen Hilfe leisteten, erlebten oft wahrhaft euphorische Augenblicke. Als die Revolution jedoch ins zweite Jahr ging, schienen die säkularen und pazifistischen Überzeugungen der LCC-AktivistInnen mit den politischen Gegebenheiten und den ideologischen Kräften der Region nicht mehr Schritt halten zu können.
Die brutale, ja barbarische Unterdrückung des Assad-Regimes machte den gewaltfreien Protest der Bevölkerung zunehmend unmöglich. So fingen die Menschen an, sich zu bewaffnen, was auch einen ideologischen Wandel mit sich brachte: Der Gedanke nach Vergebung und Versöhnung wich dem Verlangen nach Konfrontation und Märtyrertum.
Die Verwandlung der syrischen Revolution in einen scheinbar unabwendbaren Bürgerkrieg war für viele AktivistInnen schlicht unerträglich. Diejenigen, die dem Tod oder der Haft entkommen waren, entschieden sich zumeist für eine Flucht aus Syrien. Von Flucht und Exil verbittert, gaben sie sich fortan dem Empfinden von Verlust und Desillusionierung hin. Razan, Wael sowie viele ihrer FreundInnen deuteten die fatale Entwicklung Syriens jedoch völlig gegensätzlich: Gerade jetzt sei ihr Einsatz und Engagement gefragt, mehr denn je zuvor. Sie argumentierten, dass die Rolle der zivilen AktivistInnen nun darin bestand, die Taten der bewaffneten Rebellen zu überwachen, deren Exzessen Einhalt zu gebieten und in den befreiten Gebieten des Landes Institutionen für einen alternativen, demokratischen Staat zu erschaffen.
Zudem waren sie überzeugt, wie auch ihr Freund – der angesehene Autor – Yassin al-Haj Saleh, dass sich ihre Aufgabe als säkulare AktivistInnen nicht darauf beschränken könne, aus der sicheren Distanz „Aufklärung“ einzufordern; sondern dass sie sich der breiten – und zumeist gläubigen – Zivilbevölkerung anschließen und diese in ihrem Kampf um ein Leben in Würde unterstützen müssten. Nur so könne sich der liberale Säkularismus einen „Platz“ in Syriens Gesellschaft verdienen und seine Kritiker ernsthaft herausfordern.
Auch im konservativen Douma verhüllten sie nicht ihr Haar
Genau diese Auffassungen veranlassten Razan Zaitouneh im April 2013 zum Aufbruch nach Douma, ihrer letzten Station seit Ausbruch der Revolution. Nachdem sie zwei Jahre in der Hauptstadt Damaskus im Untergrund ausgeharrt hatte, entschied sie sich, dem Beispiel Yassin al-Haj Salehs zu folgen und in die als befreit geltende Stadt Douma zu ziehen, eine nördliche Vorstadt von Damaskus.
Dort lebte Razan inmitten der Hunger leidenden Bevölkerung, die zusätzlich dem ständigen Bombardement durch Regierungstruppen ausgeliefert war. Vor Ort rief Razan zwei Projekte ins Leben: ein Zentrum, das die Frauen der Stadt stärker in die gesellschaftlichen Prozesse einbinden und sie auch persönlich stärken sollte, sowie ein Zentrum für die Förderung der lokalen Zivilgesellschaft. Nebenher führte sie wie selbstverständlich ihre Arbeit in der Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen weiter und assistierte zudem Kriegsopfern.
Im August 2013 hatte sich al-Haj Saleh bereits gen Norden des Landes aufgemacht, während dessen Ehefrau Samira al-Khalil, Razan, ihr Ehemann Wael wie auch der Aktivist und Dichter Nazem Hammadi in Douma blieben. Die vier teilten sich zwei Apartments eines Gebäudes. Mitten in der Nacht vom 9. Dezember 2013 wurden sie schließlich aus ihrem neuen Zuhause entführt – von einer Gruppe bewaffneter Männer, die später mit den radikal-islamischen Gruppen „Jabhat al-Nusra“ und „Jaysh al-Islam“ in Verbindung gebracht werden konnten.
Auch im konservativ-geprägten Douma verhüllten Razan Zaitouneh und Samira al-Khalil nicht ihr Haar. Sie „passten sich nicht an“, da sie fest davon überzeugt waren, sich als Bürgerinnen Syriens nicht einer kulturellen oder politischen Ausrichtung „anpassen“ zu müssen. Allerdings scheint allein dies die radikal-islamischen Kräfte der Region ebenso herausgefordert zu haben, wie sich einst das Regime von den Massenprotesten in seiner Existenz bedroht sah.
Die internationale Gemeinschaft hat für SyrerInnen wie Razan nichts getan
Doch die Anwesenheit Razan Zaitounehs und ihrer MitstreiterInnen in Douma hatte auch überregionale Auswirkungen, „störte“ sie doch die international so gern vorgetragene Sichtweise auf Syrien, dass die zivilen AktivistInnen und VerteidigerInnen eines demokratischen Staates schwach oder gar völlig verschwunden seien. In Syrien finde ausschließlich ein konfessionell begründeter Bürgerkrieg statt, so die international vorgetragene Lesart des Konflikts.
Mag diese Sichtweise mittlerweile einen Funken Wahrheit beinhalten, liegt dies ausschließlich an einer Tatsache: Ganze zwei Jahre lang wurden die demokratischen AktivistInnen in ihrem Kampf vollends alleingelassen – in der Auseinandersetzung mit einem brutalen Regime, den Extremisten der Al-Qaeda sowie korrupten Warlords.
Bereits als Razan Zaitouneh im Dezember 2011 von der US-Journalistin Amy Goodman gefragt wurde, welche Erwartungen sie an die internationale Gemeinschaft habe, antwortete Razan lediglich: „Ich erwarte gar nichts mehr.“ Sie hatte Recht. Die internationale Gemeinschaft hat für SyrerInnen wie Razan überhaupt nichts vorangebracht – zumindest bis zum heutigen Tag.
Das genaue Schicksal der vier Entführten wie auch ihr Aufenthaltsort bleiben weiterhin unbekannt. Razan Zaitouneh war eine enge Partnerin von Adopt a Revolution. Jaysh al-Islam erhält substanzielle Unterstützung von Saudi-Arabien – führende westliche PolitikerInnen haben bis heute keinen nennenswerten öffentlichen Druck auf die Führung des Golfstaates ausgeübt, um den Fall der „Douma 4“ aufzuklären.
Dieser Text von Karam Nachar erschien am 10. September 2014 in englischer Sprache auf der Website „Al-Jumhuriya“ (dt. „die Republik“). Der hier vorliegende Text ist eine Übersetzung von Adopt a Revolution.