Faktencheck: Ist in Syrien Krieg wegen einer Pipeline?

Eine Theorie zum Krieg in Syrien lautet, Assad habe eine Gaspipeline von Katar über Syrien in die Türkei abgelehnt – und deshalb hätten die USA und ihre Verbündeten beschlossen, Assad zu stürzen. Die Theorie ist sehr populär, aber falsch. Unser Faktencheck zeigt, warum.

Der Syrienkrieg ist äußerst kompliziert. Die Wurzeln des Konflikts liegen tief – und es gibt viele Staaten, die Verantwortung für diesen grauenhaften, bald sechs Jahre dauernden Krieg tragen. Entsprechend suchen viele Menschen nach einfachen Antworten, die das kaum fassbare Grauen rationalisieren – und es idealerweise in ein ihnen vertrautes Deutungsmuster einbetten.

Besonderer Popularität erfreut sich die „Pipelinetheorie“. Ihr zufolge sei der Krieg in Syrien auf das Scheitern einer „Katar-Türkei-Pipeline“ zurückzuführen. Diese hätte von Katar über Saudi-Arabien, Jordanien und Syrien in die Türkei und von dort nach Europa führen sollen. Die USA hätten das Projekt unterstützt um die ebenfalls Erdgasexportierenden Iraner zu schwächen – auch hätte es Europa unabhängiger von russischen Gasimporten gemacht. Doch Assad, so die Erzählung, hätte ihnen allen einen Strich durch die Rechnung gemacht, indem er das Projekt ablehnte (um die Interessen seiner iranischen und russischen Alliierten zu schützen).

Assad hätte stattdessen einen vergleichbaren Pipeline-Deal mit dem Iran abgeschlossen. Diese Pipeline hätte dann stattdessen vom Iran über den Irak, Syrien und den Libanon nach Europa geführt. Um dieses Projekt zu verhindern beziehungsweise um die alte katarisch-türkische Pipeline doch noch zu realisieren, hätten die USA damit begonnen, einen „regime-change“ zu initiieren. Soweit die mittlerweile stark verbreitete „Pipelinetheorie“, die sich auf unzählige Blogs und sogar in manchen seriösen (Online-)Zeitungen wie Politico findet. (Nachtrag: Auch in Michael Lüders‘ Syrien-Bestseller „Die den Sturm ernten“ wird die falsche Geschichte unkritisch wiederholt.)

Die willkommene Mär vom „Krieg für Gas“

Seitens ihrer Vertreter wird die Pipeline-Theorie als der Grund für den Krieg in Syrien angeführt – als monokausale Erklärung, die den so komplexen wie grauenhaften Konflikt auf eine einfache, altbekannte Formel bringt: In Wahrheit führe die USA und die Golfstaaten in Syrien Krieg um Gas. Wie viele Verschwörungstheorien ist auch diese Theorie nicht zuletzt deshalb so attraktiv, weil sie sich kritisch gibt – gibt sie doch vor, einen verborgenen Grund aufzudecken: Die Gier des Westens nach Ressourcen. Ein gut eingeübtes Narrativ.

Die Pipelinetheorie ist, wie wir im Folgenden zeigen, falsch. Und sie ist perfide rassistisch, weil sie Syrerinnen und Syrern ihren freien politischen Willen abspricht und sie stattdessen als Marionetten ausländischer Mächte denunziert – ganz so als wäre es unplausibel, dass es Millionen Syrerinnen und Syrer leid sind, unter der Herrschaft einer brutalen und korrupten Diktatur zu leben und dass sie, inspiriert von den Aufständen in anderen arabischen Staaten, schließlich im Frühling 2011 gegen das Assad-Regime auf die Straße gingen.

Es ist nichts Neues, dass Regime der Region – ob vordergründig säkularer oder islamistischer Gesinnung – jeden Widerspruch ihrer Bevölkerung als angebliche Einflussnahme fremder Mächte diskreditieren und mit Hilfe dieser Verschwörungstheorien brutalste Repressionen rechtfertigen. Neu ist aber der enorme Eifer mit dem solche Strategien auch im Westen angewendet werden.

Hier der umfangreiche Faktencheck der „Pipelinetheorie“:

  • Der Theorie zufolge habe Assad die katarische Pipeline 2009 abgelehnt. Aber die Türkei und Katar starteten im Spätsommer 2009  überhaupt erst Verhandlungen über eine mögliche Kooperation. Ob die Pipeline überhaupt über Saudi-Arabien, Jordanien und Syrien oder stattdessen über Saudi-Arabien, Kuwait und Irak führen sollte, war damals offen. Es gab 2009 daher wenig, das Syrien hätte ablehnen können.
  • Überhaupt tauchen entsprechende Berichte über Syriens angebliche Ablehnung des Projekts erst Jahre später auf – da hatte der Aufstand in Syrien längst begonnen. Man möchte meinen, dass Assads angebliche Ablehnung eines Projekts der Golfstaaten (die sich bekanntlich gerne und lautstark echauffieren, wenn sie sich brüskiert fühlen) zumindest Berichterstattung oder irgendein Echo auf politischer Ebene hervorgerufen hätte. Doch entsprechende Berichte finden sich nirgends.
  • Was man hingegen findet, ist ein euphorischer Artikel über Pipelinepläne in Syrien, der Mitte November 2009 in der Zeitung al-Thawra erschien (das Blatt wird von Assads Baath-Partei herausgegeben). Dort wird die türkisch-katarische Pipeline positiv erwähnt.
  • 2010 berichtete die emiratische Zeitung The National hingegen über das Projekt und erklärte, dass das größte Hindernis für das Projekt Saudi-Arabien sei, nicht etwa Syrien. Von einer Ablehnung des Projekts durch Assad, die das Projekt ja schon zuvor hinfällig gemacht hätte, ist keine Rede.
  • Und es geht nicht nur um diese Pipeline: Sowohl nach Bahrain als auch nach Kuwait (die beide auf Gasimporte angewiesen sind) hatte Katar eine Pipeline geplant. Auch dieses Projekt scheiterte bereits am Widerstand Saudi-Arabiens. Assad angeblicher Widerstand gegen die Pipeline aus Katar war, anders als die „Pipelinetheorie“ behauptet, keineswegs ein zentrales Problem für das Projekt.
  • Der „Pipelinetheorie“ zufolge habe sich Assad den Ärger der USA und Westeuropas zugezogen, weil er a) die Katar-Pipeline abgelehnt habe (was, siehe oben, offenbar nicht stimmt) und b) weil er sich stattdessen für eine alternative Pipeline des Irans eingesetzt. Dafür haben sich jedoch viele Akteure eingesetzt: Die Türkei hat sich, anders als die Theorie behauptet, nicht nur für die katarische Lösung eingesetzt, sondern sich für eine Pipeline aus dem Iran Richtung Europa ausgesprochen, an der nicht zuletzt auch die EU-Staaten Interesse haben. Diese Pipeline hätte gar nicht über Syrien geführt.
  • Die Pläne scheiterten unter anderem lange an den im Rahmen des Atomstreits verhängten Sanktionen gegen den Iran. Doch diese Sanktionen werden im Zuge des von der Obama-Regierung lange vorangetriebenen und im Juli 2015 beschlossenen Iran-Deals weitgehend fallengelassen. Gut möglich, dass der Iran seinen Gasexport vergrößern und diversifizieren kann, entsprechend setzt sich Teheran auch wieder für die türkisch-iranische Lösung ein.

Es gab allerdings auch Pläne für eine Pipeline vom Iran über Irak und Syrien in den Libanon. Wurde der Syrien-Krieg „angezettelt“, um eine solche Pipeline zu sabotieren?  Das scheint äußerst unplausibel:

  • Das Timing stimmt nicht: Das erste für eine Iran-Irak-Syrien-Libanon-Pipeline notwendige Abkommen wurde im Sommer 2011 geschlossen.  Da war der syrische Aufstand schon seit Monaten ins Rollen gekommen.
  • Eine Iran-Irak-Syrien-Libanon Pipeline würde durch den mehrheitlich sunnitischen Teil des Iraks führen, wo sunnitische Extremistengruppen präsent sind, die diese Pipeline dankend sabotieren würden. Allein die Instabilität des Irak hätte ausgereicht, um das Projekt zu torpedieren.
  • Im Libanon hätte das Gas verflüssigt werden müssen, um über den Seeweg nach Europa zu gelangen. Dieser teure Prozess hätte es schwierig gemacht, preislich etwa mit russischem Gas zu konkurrieren.
  • Die oben erwähnte Pipeline die aus dem Iran direkt in die Türkei und von da nach Europa führen soll, wäre günstiger, kürzer und sicherer.

Noch etwas mehr Hintergrund zu den Pipeline-Plänen in Europa:

  • Die Katar-Türkei Pipeline wäre vor allem als Verlängerung der türkisch-europäischen Nabucco-Pipeline sinnvoll gewesen. Die Pläne für diese Pipeline wurden 2013 eingestellt, galten aber schon 2009 als problembelastet. Zwar gibt es ein Alternativprojekt (TAP-Pipeline), dieses wird jedoch nicht vor 2020 fertig, der Bau begann 2015, den Zuschlag erhielt es erst 2013.
  • Beide Projekte waren vor allem für den Transport aserbaidschanischen Gases gedacht, um Europa unabhängiger von Russland zu machen. Russland würde die Realisierung der Katar-Türkei-Pipeline vermutlich wirklich stören – ebenso wie eine iranisch-irakisch-syrische oder andere Lösungen, die Gas an Russland vorbei Richtung Europa liefern. Ein Zufall also, dass Russland von Anfang an zur Eskalation des Syrien-Kriegs beitrug und Pipelines durch Syrien damit auf Jahre unmöglich machte? Daraus ließe sich mit Sicherheit auch eine Verschwörungstheorie bauen – nur wäre die ebenso falsch wie die gängige, vor allem gegen die USA gemünzte „Pipelinetheorie“. Etwa weil bereits ein Blick auf die Landkarte zeigt, dass es viele Möglichkeiten gibt, um Pipelines aus dem Nahen Osten Richtung Europa zu bauen, ohne dabei Syrien zu durchqueren. Und auch weil es Indizien gibt, dass die Bedeutung von Ressourcen als Kriegsgrund vermutlich eher überschätzt wird.

Übrigens:

  • Auch in der von WikiLeaks veröffentlichten „Public Library of US Diplomacy“ sowie in den überwiegend erstaunlich belanglosen „Syria Files“ finden sich unseres Wissens nach keine Indizien, die für die „Pipelinetheorie“ sprechen.

Nicht nur im Nahen Osten werden ständig Pipelines angekündigt. Die wenigsten von ihnen werden realisiert – weil die Investitionen hoch riskant sind, weil politischen Verhältnisse stets kompliziert sind, oder weil sich neue Gelegenheiten ergeben. Die Katar-Türkei-Pipeline, sie war genau das: Ein Plan unter vielen. Im Rahmen einer anderen Pipeline, der Arab Gas Pipeline (sie startet in Ägypten, s. Karte), kooperierte Syrien übrigens noch eifrig weiter mit der Türkei. Die Theorie vom Pipelinekrieg in Syrien hält einer Faktenprüfung nicht stand – es handelt sich um eine Verschwörungstheorie.

Geplante Pipelines im Nahen Osten, die weitaus realistischer sind, als die katarisch-türkische oder iranisch-irakisch-syrische. Quelle: RWE
Geplante Pipelines im Nahen Osten, die weitaus realistischer sind, als die katarisch-türkische oder iranisch-irakisch-syrische. Quelle: RWE

Und es gibt noch viele weitere Aspekte, die der Theorie vom Pipelinekrieg widersprechen. So rief US-Präsident Barack Obama jene Teile des US-Außenministeriums, die auf ein stärkeres Engagement in Syrien zugunsten der Rebellen drängten (wie die bis 2013 amtierende Außenministerin Hillary Clinton), explizit zurück. Als Assads Popularität 2013 weltweit am Tiefpunkt angelangt war – nach dem Giftgasangriff von Ghouta und noch bevor ihn das Erstarken des „Islamischen Staates“ und Russlands Propaganda als angeblich „kleineres Übel“ erscheinen ließen  –, entschied sich die US-Regierung gegen militärische Angriffe auf Ziele des Assad-Regimes, obwohl die zuvor ausgegebene „rote Linie“ mit dem Giftgasangriff auf Ghouta überschritten war.

Hätte die US-Regierung den Sturz des maroden Assad-Regimes mit ganzer Entschlossenheit gewollt, hätte sie ihn aller Voraussicht nach in überschaubarer Zeit auch erreicht. Die von den USA unterstützten Milizen beklagten sich hingegen immer wieder über halbherzige Unterstützung, die ihnen oft auch rasch wieder entzogen wurde. Die Theorien, die meinen, Schuld am Syrienkrieg sei ein von den USA und ihren Verbündeten angezettelter „regime-change“, können all dies nicht erklären.

Selbstverständlich verfolgen alle in den internationalisierten Bürgerkrieg involvierten Staaten Eigeninteressen in Syrien, unter anderem auch ökonomische. Keiner der beteiligten Staaten hat allein das Wohl der syrischen Bevölkerung im Sinne. Dass es diese ökonomischen und vor allem machtpolitischen Interessen der staatlichen Akteure gibt, rechtfertigt nicht, die unzähligen Stimmen oppositioneller Syrer einfach abzutun, ebenso wenig wie die Kriegsverbrechen des Assad-Regime und dessen 40-jährige Gewaltherrschaft auszublenden. Genau darauf aber zielt es die Theorie vom „Pipeline-Krieg“ ab.

Jan-Niklas Kniewel