Amina Khoulani ist eine der Gründerinnen von Families for Freedom. Die frauengeführten Bewegung setzt sich für die Freilassung der politischen Gefangenen in Syrien ein und fordert Gerechtigkeit für gefolterte und ermordete Gefangene. Ihre Geschichte erzählte sie auf einer Veranstaltung von Amnesty International, Save the Rest und Urnammu in London.
Mein Name ist Amina. Es ist nicht das erste Mal, dass ich meine Geschichte und die meiner drei Brüder erzähle. Dutzende von Nachrichtensendern, Zeitungen und Veranstaltern haben mit mir über meine Brüder gesprochen, seitdem diese 2011 inhaftiert wurden.
Doch etwas ist heute anders. In der Vergangenheit habe ich immer voller Hoffnung über sie gesprochen und glaubte, dass ich sie irgendwann wiedersehen würde; dass sie aus dem Gefängnis entlassen und ich ihre Gesichter sehen würde. Nun spreche ich erstmals über sie, nachdem ich die Nachricht über ihren Tod unter Folter erhalten habe.
Es ist sehr schwierig für mich, diese Geschichte zu erzählen.
Als mich die Nachricht erreichte, traf ich die Entscheidung, niemandem davon zu erzählen. Nie wieder würde ich an einer Veranstaltung teilnehmen, niemandem würde ich mehr die Geschichte meiner Brüder erzählen. Wir fingen an, die Hoffnung zu verlieren, wir Syrer, nachdem wir allen hundert Mal unsere Geschichten erzählt hatten. Denn niemand hatte ein offenes Ohr für unseren Schmerz, und niemand verstand, was dieser Schmerz für uns bedeutete.
Doch ich entschied mich anders. Ich musste einfach weiter von meinen Brüdern erzählen. Denn ich bin sehr stolz auf sie, weil sie unter den ersten waren, die den großen Traum und die große Vision von einem Syrien für alle gezeichnet haben.
Ich habe beschlossen, die Geschichte meiner Brüder und aller anderen jungen Männer zu erzählen, die sich für diesen großen Traum von Demokratie und Freiheit geopfert haben. Sie verdienen das. Sie verdienen es, dass ihre Geschichten erzählt werden und ihre bemerkenswerte Arbeit in Erinnerung bleibt.
Das erste, was ich Ihnen erzählen werde, ist die Geschichte von Majd, meinem jüngsten Bruder.
Das Letzte, was Majd auf seiner Facebook-Seite schrieb, war, dass das Blut keines einzigen Syrers vergossen werden darf. Auch nicht das der Mitglieder der Armee und der Sicherheitskräfte. Dieselben Sicherheitskräfte trafen die Entscheidung, ihn festzunehmen und zu foltern.
Majd studierte in seinem zweiten Jahr Jura an der Universität Damaskus. Gleich zu Beginn der syrischen Revolution entschied er, auf die Straße zu gehen. Er war ein friedlicher Aktivist, der für ein freies demokratisches Syrien für alle demonstrierte. Für ein Syrien, das die staatsbürgerlichen Rechte aller seiner Bürger respektiert.
Majd und seine Kollegen waren es, die auf den Demonstrationen die Verteilung von Blumen und Wasserflaschen an die Soldaten initiierten. Sie wollten ihnen eine Botschaft vermitteln: Du und ich sind eins, also warum tötest du mich? Sie wollten ihnen sagen, dass wir friedlich sind und kein Blutvergießen wollen. Und so gingen sie zu den Soldaten, um ihnen die Blumen und die Wasserflaschen zu geben. Auf eine Seite der Flasche hängten sie die syrische Flagge – erst später benutzen wir die Revolutionsflagge – und auf die andere Seite der Flagge schrieben sie : „Ihr und ich sind Syrer; wir sind gleich, also warum müsst ihr mich töten?“ Und doch wurden sie von den Soldaten beschossen. Einer seiner Kameraden starb und Majid selbst wurde verhaftet.
Würde Majd heute bei uns sein, dann wäre er jetzt Anwalt und würde weiter für Menschenrechten streiten. Oder er wäre ein Fußballspieler, denn darin war er wirklich gut. Er liebte seine Freunde über alles. Während aller Demonstrationen trug er dieses rote T-Shirt, das er er auch damals trug, als er verhaftet wurde.
Auch mein ältester Bruder, Abdulsatar, nahm an den Demonstrationen teil. Er war frisch verheiratet und hatte zwei Kinder. Das Foto ist von seiner Hochzeit.
Der Geheimdienst der Luftwaffe hat Abdulsatar verhaftet. Wir erhielten keinerlei Neuigkeiten mehr über ihn. Das war das erste Mal, dass wir Amnesty kontaktierten – die erste Organisation, die für meine Brüder nach ihrer Festnahme Partei ergriff. Aber es hat nicht funktioniert. Das Regime hat nie auf Beschwerden reagiert. Wir haben keine Informationen über meine Brüder erhalten. Manchmal lebten wir in Hoffnung, manchmal in Verzweiflung. Bis wir die Möglichkeit bekamen, sie im Dezember 2012 im Gefängnis Saidnaya zu besuchen.
Wir hatten die Offiziere des Regimes bestochen, damit sie uns ins Gefängnis ließen. Wir zahlten viel, und mussten an vielen Beamten vorbei. Dann erlaubten sie uns, unsere Angehörigen zu sehen. Drei Barrieren waren zwischen ihnen und uns. Wir waren nur zehn Minuten da. Wir hatten es in Kauf genommen, sie nur zehn Minuten sehen zu dürfen.
Ich weiß nicht, warum das Regime meine Familie immer wieder verfolgte. Im November 2012 wurden wir gewaltsam aus meiner Heimatstadt Daraya vertrieben. Wir zogen nach Mazzeh, was ganz in der Nähe liegt. Aber weil in unseren Ausweisen steht, dass wir aus Daraya stammen und zur oppositionellen Familie Khoulani gehören, sind wir verflucht. Die Geheimdienste brachen in das Haus ein, das wir in Mazzeh gemietet hatten, und sie verhafteten meine beiden anderen Brüder Bilal und Mouhamed. Obwohl sie nie an Demonstrationen teilgenommen hatten.
Wieder mussten wir Schmiergeld zahlen, um Neuigkeiten über ihren Verbleib zu erhalten. Dann, nach sechs Monaten, erfuhren wir, dass sie von der Branch 215 des Militärgeheimdienstes festgehalten wurden. Und weil wir viel Geld gezahlt hatten, gaben sie einen der beiden frei: Bilal.
Das eine Foto zeigt ihn vor seiner Festnahme, das andere nach seiner Freilassung. Er sah aus wie eine Leiche.
Glücklicherweise ist er in den Libanon geflohen, und aus dem Libanon wurde er nach Irland umgesiedelt. Er erholt sich – Gott sei Dank. Er fand wieder zu sich selbst. Er überlebte. Aber bis heute ist er von der Folter gezeichnet. Er leidet noch immer unter ihr.
Als Bilal freigelassen wurde, war das ein großes Glück für die Familie. Zugleich war es eine Katastrophe, denn als er aus dem Gefängnis kam, sagte er uns, dass er mit eigenen Augen gesehen hat, dass mein Bruder Mouhamed in der Branch 215 getötet worden war. Wir weigerten uns, das zu glauben. Wir dachten damals, dass Bilal, als er aus dem Gefängnis entlassen wurde, geistig instabil war und vielleicht halluzinierte. Vielleicht hatte er Dinge gesehen, die nie passiert waren. Also behielten meine Geschwister und ich diese Nachricht für uns, erzählten es unseren Eltern nicht.
Als Mouhamed festgenommen wurde, weinten wir. Seine Frau war mit seinem ersten Kind schwanger. Auch sie ließen wir im Unklaren über seinen vermeintlichen Tod.
Wir hielten diese Nachricht geheim, bis die Bilder des Militäfotografen Caesar durchsickerten. Eines der Bild zeigte Mouhamed. Es war schrecklich. Ich werde mich an ihn erinnern, wie er war, bevor er inhaftiert wurde.
Als meine Familie zum Regime ging und sie nach dem Grund fragte, warum Mouhamed tot ist, sagten sie, dass es Herzversagen gewesen sei. Mein Bruder war 24 Jahre alt. Er war jung und gesund, wie kommt es, dass er an Herzversagen gestorben ist?
Im Jahr 2013 verhaftete das Regime mich und meinen Mann. Wir wurden im selben Auto in die Haftanstalten gebracht. Das war ein Schlag für meine Familie, für sechs Monate waren fast alle ihre Kinder im Gefängnis. Mein Mann blieb zwei Jahre lang eingesperrt, aber wir wurden beide entlassen. Alles, was passiert ist, hat mich nie davon abgehalten, für meine Brüder und die anderen Häftlinge zu sprechen.
Ich und eine Gruppe von Kollegen, auf die ich sehr stolz bin, haben 2016 in Genf eine Gruppe namens Families for Freedom gegründet.
Wenn niemand über die Gefangenen spricht, dann müssen wir als ihre Familien für sie eintreten. Vielleicht wird jemand unsere Geschichten hören und uns beistehen. Das war der Grund für die Gründung von Families for Freedom.
Im Jahr 2018 begann das Regime kaltblütig mit der Veröffentlichung von Listen junger Männer und Frauen, die unter Folter in seinen Haftanstalten gestorben waren. Grob wie sie sind, schickten sie diese Listen einfach an die Zivilstandsämter, wo diese Menschen dann als tot registriert wurden. So einfach ist das.
Meine Heimatstadt Daraya erhielt eine Liste von tausend ermordeten jungen Männern. Meine Familie zögerte lange, auf dieser Liste nach meinen Brüdern Majd und Abdulsatar zu suchen, weil wir in der Hoffnung leben wollten, dass wir sie eines Tages wiedersehen würden. Aber dann hätten wir auch niemals damit abschließen können. Wir mussten Gewissheit über ihr Schicksal haben.
Da niemand aus meiner Familie mehr in Syrien ist, konnte niemand die Papiere auf dem Zivilstandsamt einsehen. Also beauftragten wir einen Anwalt damit, diese Mission zu übernehmen. Und wir fanden heraus, dass meine beiden Brüder beide am selben Tag, am 15. Januar 2013, zum Tode verurteilt worden waren. Das hier ist das Stück Papier, das zeigt, dass wir sie verloren haben.
Ich selbst war eine Gefangene. Und ich war die Frau eines Gefangenen, als mein Mann in Saidnaya festgehalten wurde. Ebenso erlebte ich, was es bedeutet, die Schwester eines Gefangenen zu sein. Und ich nun bin ich Menschenrechtsaktivistin und trete für die Rechte der Verschwundenen ein.
Ich habe nie den Glauben an diese Revolution verloren. Nicht als ich meine Brüder verlor, nicht als ich selbst in einer Einzelzelle saß, nicht als sie mir drohten, mich zu vergewaltigen, nicht, als sie drohten, meine Kinder zu töten, nicht, als sie drohten, meinen Mann zu töten.
Ich habe nie den Glauben daran verloren, dass diese Revolution gerecht ist. Und doch werde ich wohl nie mit eigenen Augen sehen, wie sie Erfolg hat. Aber vielleicht werden meine Enkelkinder das eines Tages erleben und stolz auf mich sein. Ich werde niemals schweigen.
Selbst wenn das ganze Universum nicht auf mich hören wird, werde ich weiter sprechen. Und ich werde weiterhin stolz auf diese Revolution sein, diese gerechte Revolution, selbst wenn ich die einzige wäre, die von der Opposition übrig geblieben ist. Diese Revolution verdient es, zu existieren, erfolgreich zu sein. Eines Tages könnten wir Sie nach Syrien einladen, und wir werden dort alle zusammensitzen, und wir werden frei über diese Dinge reden.
Aus dem Arabischen von Kholoud Helmi. Zuerst erschienen auf Englisch in der Zeitschrift Syria Notes.