Um an subventioniertes Brot zu kommen, müssen Syrer*innen oft lange anstehen. Angeblich, weil es keinen Weizen gibt. Wer Geld hat, kann freilich anderswo Brot kaufen – aber rund 80 Prozent der Bevölkerung gelten mittlerweile als arm. Foto: Enab Baladi

»Die Sanktionen sind ein Zeichen der Hilflosigkeit des Westens«

In der syrischen Disapora werden die gegen das Assad-Regime erlassenen Sanktionen kontrovers diskutiert. Inwiefern erreichen die Sanktionen ihr Ziel, das Assad-Regime zu einer Verhaltensänderung zu bewegen? Inwiefern schaden sie der syrischen Zivilbevölkerung? Wir haben die Wirtschaftswissenschaftlerin Salam Said um eine Einschätzung gebeten.

Um an subventioniertes Brot zu kommen, müssen Syrer*innen oft lange anstehen. Angeblich, weil es keinen Weizen gibt. Wer Geld hat, kann freilich anderswo Brot kaufen – aber rund 80 Prozent der Bevölkerung gelten mittlerweile als arm. Foto: Enab Baladi

Die wirtschaftliche und humanitäre Situation der syrischen Bevölkerung hat sich rapide verschlechtert, ein großer Teil der Bevölkerung hat Probleme, Brot zu kaufen oder an Gas oder Öl zum Heizen zu kommen. Das Assad-Regime macht dafür die Sanktionen verantwortlich. Aber stimmt das? 

Die Antwort ist kompliziert. Wenn Menschen in Damaskus, Aleppo oder anderen Städten frieren, weil sie keinen Diesel für ihre Heizungen bekommen, schiebt das Assad-Regime das natürlich auf die Sanktionen – aber zugleich gibt es ja Diesel für die Militäroperationen des Regimes in Idlib, für die sehr viel Treibstoff gebraucht wird. Dass die Sanktionen schuld sind an der Misere der Bevölkerung ist daher nicht ganz richtig – aber es ist zugleich auch nicht ganz falsch: Die Sanktionen haben massive Nebenwirkungen, sie treffen leider durchaus die Bevölkerung. 

Wenn man sich die miserable Lage in Syrien ansieht – welchen Anteil haben die Sanktionen daran, die die USA und die EU gegen Syrien erlassen haben?  

Dr. Salam Said studierte Wirtschaftswissenschaft in Damaskus und promovierte an der Universität Bremen. Seit 2009 lehrt sie an deutschen Universitäten. Gegenwärtig arbeitet sie als Länderreferentin für Syrien, Libanon und Libyen sowie für die Themen Flucht und Migration und politischen Feminismus an der Friedrich Ebert Stiftung in Berlin. Sie hat mehrere Publikationen über die politische Ökonomie Syriens und die Wirtschaftspolitik arabischen Staaten veröffentlicht.

Der Caesar-Act der USA, der die Syrien-Sanktionen erheblich verschärft hat, trat in Kraft, als gerade die Wirtschaftskrise im Libanon eskalierte und die syrische Währung mit in den Abgrund riss. Daher ist es für die Wirtschaftswissenschaft sehr schwer zu bestimmen, welcher Faktor für den wirtschaftlichen Zusammenbruch in Syrien nun der gewichtigere ist – die Sanktionen oder die Libanonkrise. Insgesamt kommen viele Faktoren ins Spiel – der noch immer andauernde Krieg, die zerstörte Infrastruktur, die Pandemie, das korrupte Regime und die Misswirtschaft der Regierung… 

Es könnten ja etwa Russland oder der Iran Weizen oder Öl nach Syrien liefern, die das Assad-Regime ja seit Jahren an der Macht halten …

Ja, durchaus. Aber beide Staaten liefern zu wenig, weil für iranische und russische Unternehmen Syrien als Markt auch nicht so lukrativ erscheint. Zu den Sanktion, die die Abwicklung des Handels erschweren und die Transaktionskosten erhöhen, kommt die niedrige Kaufkraft der syrischen Regierung hinzu, die fast pleite ist, sowie die niedrige Kaufkraft der Bevölkerung, die zu  über 80 Prozent arm ist. 

Aber Russland und der Iran sind ohnehin selbst sanktioniert. Inwiefern kümmern sie dann die Syrien-Sanktionen überhaupt?

Der Caesar-Act droht internationalen Firmen mit Sanktionen, die in den Handel mit Syrien nur peripher involviert sind – und das trifft etwa auch Reedereien, die das Öl transportieren oder Banken, die die entsprechenden Transaktionen abwickeln. Diese internationalen Firmen haben Angst, sanktioniert zu werden und dadurch aktuelle und zukünftige Marktzugänge zu den westlichen Staaten zu verlieren.

Durch die Sanktionen des Westens hat sich zwar tatsächlich eine Art inoffizieller Club der sanktionierten Staaten gebildet, die untereinander Handel treiben können, weil sie ohnehin alle sanktioniert sind – vom Iran über Russland bis hin zu Venezuela oder Nordkorea. Aber Firmen, die weiter auch im Westen tätig sein wollen, werden sich von diesen Geschäften fernhalten.

Auch dann, wenn es um Lieferungen geht, die von den Sanktionen ausgenommen sind – etwa medizinische Güter oder andere Hilfen, die eigentlich nach Syrien exportiert werden dürften?

Ein Problem ist, dass viele internationale Banken aus Furcht vor Sanktionen einfach alle Transaktionen vermeiden, bei denen Syrien auch nur erwähnt wird. Man spricht in diesem Zusammenhang von “Overcompliance”. Daher treffen die Sanktionen auch Dinge, die eigentlich nicht das Ziel der Sanktionen sind. Selbst NGOs, die syrische Geflüchtete im Libanon unterstützen, versuchen daher den Begriff “Syrien” in allem zu vermeiden, was mit Transaktionen zusammenhängt.

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Treffen die Sanktionen zumindest auch die richtigen Leute?

Das Assad-Regime war schon immer umgeben von einem Kreis von loyalen Geschäftsleuten, die im Schutz des Regimes gute Geschäfte gemacht haben, obwohl sie rein wirtschaftlich gesehen nicht wettbewerbsfähig waren. Und nach 2011 kamen eine ganze Reihe von Warlords dazu, die das Regime für ihre Loyalität belohnt, indem es ihnen eine Monopolposition auf dem Markt beschert oder sie kriminelle Geschäfte machen lässt, z.B. Erpressung, Fälschungen oder Beschlagnahmungen des Eigentums von geflüchteten Syrer*innen. 

Und dieses Umfeld aus Warlords und mit dem Regime eng verbundenen Geschäftsleuten ist von den Sanktionen betroffen, da sie keine profitablen Exportgeschäfte abwickeln können oder reibungslos importieren dürfen. Da mehr als neunzig Prozent der syrischen Bevölkerung arm sind, ist die Kaufkraft innerhalb Syriens gering. Wenn die Sanktionen nun den Export und Import erschweren, macht das ihnen durchaus Probleme und erhöht ihre Produktionskosten.

Gerät das Umfeld des Regimes durch die Sanktionen dadurch unter Druck, sich von Assad abzuwenden?

Die Erfahrung der letzten Jahre hat gezeigt, dass viele Geschäftsleute trotz des Sanktionsdrucks Assad treu blieben, während andere eben ausgewandert sind. In manchen Fällen führen die Sanktionen eher zu engeren Verbindungen mit dem Regime. Auf einer Sanktionsliste zu stehen gilt in Syrien schon als eine Art Loyalitätsbeweis gegenüber Assad. Anstatt vom Regime abzurücken und ihre Geschäfte anders auszurichten, werden sie sich noch enger an das Regime binden.

Wenn man sich das Regime selbst ansieht – ist es realistisch, dass die Sanktionen eine Verhaltensänderung bewirken?

Insgesamt ist fraglich, wie die Sanktionen das erreichen sollen. Wenn man sich die Geschichte ansieht, etwa die Irak- oder auch die Iran-Sanktionen, dann sieht man, dass Sanktionen politisch gesehen leider nicht sehr erfolgreich waren, um solche Verhaltensänderungen zu erreichen. Vielmehr haben die sanktionierten Akteure die Sanktionen propagandistisch für ihre Zwecke nutzen können, nach dem Motto: Alles sind gegen uns, wir müssen zusammenhalten. 

Und warum sollte Assad einlenken?

Das Caesar-Gesetz der USA, das dem syrischen Staat harte Sanktionen auferlegt, formuliert Bedingungen, die die syrische Regierung erfüllen müsste, damit die Sanktionen entfallen: Die Beendigung der Bombardierung ziviler Ziele, die Aufhebung aller Belagerungen, die Freilassung der politischen Gefangenen und eine unabhängige Strafverfolgung der Kriegsverbrechen. Ist das zu viel verlangt?

Nein, aber trotzdem wird das Assad-Regime diese Bedingungen nicht erfüllen. Er weiß, dass die letzte Bedingung bedeutet, dass er vor den internationalen Strafgerichtshof müsste. Die UN sammelt ja bereits Beweismaterial zu den Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, damit Assad und andere führende Köpfe des Regimes eines Tages verurteilt werden können.

Und warum sollte Assad einlenken? Das Regime hat es immer gut verstanden, sich unterschiedlichen Situationen anzupassen. Ein Effekt der Sanktionen ist zum Beispiel verstärkte Informalität. Wenn man offiziell nicht arbeiten kann, investiert man vielleicht etwas mehr in informelle Märkte kriminelle Geschäfte – zum Beispiel in den Drogenschmuggel und den Schmuggel von Antiquitäten, in den das Regime aber auch schon in den 1980er Jahren verwickelt war. Wenn das Regime Devisen braucht, produziert die chemische Industrie Syriens anstelle von Medikamenten eben Drogen für den Export.

Und diese Anpassungsfähigkeit gibt es auch seitens der Akteure, die in Syrien tätig sein wollen: So hat sich etwa der russische Oligarch und Putin’s enger Freund Timtschenko ein lukratives und langfristiges Investitionsabkommen zu Phosphat-Förderung und Export gesichert. Er hat einfach ein Netz aus Briefkastenfirmen geschaffen, um das Phosphat an den Sanktionen vorbei exportieren zu können. Aktuell zeigen ja die Pandora-Papers, wie solche Netzwerke aus Briefkastenfirmen operieren, um Regulierungen zu umgehen – ob es nun um Steuergesetze geht oder eben um Sanktionen.

Kann sich das Regime auch ein Stück weit schadlos halten, indem es die Last der Sanktionen an die Bevölkerung weiterreicht?

In gewisser Weise ja. Die Sanktionen sind für das Regime eine gute propagandistische Rechtfertigung für den Staatsbankrott und eine massive Privatisierungen von Gütern, die eigentlich staatlich subventioniert sind. So könnte man eigentlich für 200 Lira subventioniertes Brot oder für den dreifachen Preis einen Liter Diesel kaufen, aber dafür muss man jetzt ewig Schlange stehen und bekommt am Ende vielleicht gar nichts mehr ab. Aber wenn man genug Geld hat, kann man natürlich anderswo Brot kaufen. Dasselbe gilt für Diesel. Die staatlichen Leistungen werden unter Verweis auf die Sanktionen massiv zurückgefahren.

Man muss immer analysieren, wer unter den Folgen leidet. Diese Krise ist keine “Krise für die Elite”, sondern eine Krise für die Armen. Für die Reichen gibt es genug Brot, Diesel für ihre Autos und Heizöl für ihre großen Häuser. Während für die Normalbevölkerung ständig das Licht ausgeht, werden Assad und seine Familie durchgehend Elektrizität haben. Das Hauptproblem ist und bleibt die Verteilungspolitik des Staates – die ungerechte Verteilung der Ressourcen und der Last der Krise!


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Die EU bezeichnen ihre Sanktionen gern als “smart”, weil sie versuchen, durch personenbezogene Sanktionen zielgenau das Regime und seine Entourage zu treffen. Ist nicht zumindest das unproblematisch für die Normalbevölkerung?

Eins von mehreren Problemen dieser Sanktionen ist, dass diese regimeloyalen Unternehmer in Syrien Monopolisten von Assads Gnaden sind. Sie verdanken ihre wirtschaftliche Stellung der Tatsache, dass das Regime ihnen erlaubt, etwas zu produzieren. Denn welcher Unternehmer kann in Syrien heute noch etwas produzieren, ohne dafür das Wohlwollen des Regimes zu haben?

Und wenn solche Monopolisten sanktioniert werden, treffen die Sanktionen eben auch die syrische Bevölkerung. Wenn zum Beispiel derjenige, der den Milchmarkt beherrscht, wegen der Sanktionen Probleme bekommt, werden die Produktionskosten höher und dann bekommen die Menschen in Syrien eben kaum noch bezahlbare Milch. 

Wie nehmen Sie die Reaktionen der Bevölkerung auf die Sanktionen wahr?

Meine Angehörigen in Syrien sprechen nicht über die Sanktionen – sie berichten, dass sie zum Beispiel keinen Diesel herbekommen oder Brot. Mein Eindruck ist, dass der alltägliche Mangel nicht schlecht ist für das Regime, weil die Menschen nicht über Politik nachdenken, sondern nur, wie sie ihre alltäglichen Probleme lösen.

Die meisten Syrer*innen fühlen sich von allen Seiten im Stich gelassen.

Klagen über die miserable Versorgungslage toleriert das Regime zwar ein Stück weit. Die Verantwortung wird dann auf die unteren Verwaltungsebene abgewälzt, wo “Fehler” passieren, während Assad wie ein König unangreifbar über Allem steht. Wer sich aber in den sozialen Medien zu prominent über die miserable Versorgungslage beschwert, kann im Gefängnis landen. Erst vor Kurzem gab es einen Fall eines Alawiten, der auf Facebook sinngemäß geschrieben hatte, dass er ja nicht Demokratie verlange, sondern nur genug zum Essen und Gas zum Kochen – und der daraufhin im Gefängnis verschwand, vielleicht ist er bereits unter der Folter gestorben.

Ich denke auch die Loyalität gegenüber Assad, die insbesondere den alawitischen Milieus immer nachgesagt wird, ist kaum noch mehr als Angst. In den ärmeren alawitischen Milieus würden die meisten Menschen das Assad-Regime gern loswerden, wenn sie dafür gute Schulen, medizinische Infrastruktur und eine stabile Strom- und Gasversorgung für sich und ihre Kinder bekämen. 

In einigen Regionen gab es auch Proteste, die durch die miserable Versorgungslage ausgelöst wurden – etwa in Sweida, wo Menschen unter dem Motto “Wir wollen in Würde leben” schlicht Brot und Elektrizität forderten. Und es gab etwa auch mehrere Proteste von syrischen Arbeiter*innen, die bei ehemals staatlichen Unternehmen angestellt waren, die dann auf einmal neue Arbeitsverträge zu schlechteren Bedingungen bekamen, weil ihre Unternehmen an russische Privatinvestoren verkauft worden waren. Es gibt also durchaus zunehmende Proteste, die durch die sozioökonomische Situation ausgelöst werden.

Folgt daraus Hoffnung auf einen politischen Wandel?

Insgesamt nehme ich eine tiefe Hoffnungslosigkeit wahr. Die meisten Syrer*innen fühlen sich von allen Seiten im Stich gelassen – ob vom Westen, der die Revolution erst begrüßte, aber dann davor zurückschreckte, sie konsequent zu unterstützen. Oder von Russland und Iran, die die Herrschaft des Assad-Regimes absichern, aber nicht die Grundversorgung der syrischen Bevölkerung.

Man stelle sich vor, man würde Assad wieder politisch integrieren – was wäre das Ergebnis?

Würden Sie für eine Aufhebung der Sanktionen plädieren?

Nein, ich lehne die Sanktionen nicht pauschal ab – aber ich kann sie auch nicht pauschal verteidigen. Im Arabischen sagt man sinngemäß: Es ist ein Unterschied, ob man Schläge zählt oder Schläge bekommt. Und wir hier im Ausland sind es, die die Schläge nur zählen, während sich in Syrien viele Menschen fragen, wo sie morgen Brot herbekommen sollen.

Aber immer, wenn die Sanktionen kritisiert werden, muss man fragen, was denn die Alternative ist. Einfach keine Sanktionen? Soll man etwa versuchen, Assad diplomatisch zu überzeugen, doch mal netter zur syrischen Bevölkerung zu sein und demokratischer zu werden? 

Es ist keine Option, das Regime straflos zu lassen und es einfach wieder Stück für Stück zu rehabilitieren. Man stelle sich vor, man würde Assad wieder politisch integrieren, vielleicht in einer Art gemeinsamen Regierung mit Kräften der Opposition – was wäre das Ergebnis? Man sieht etwa im Libanon, welche Konsequenzen es hat, wenn Warlords straffrei und an der Macht bleiben: Ständig herrscht Gewalt, massive Korruption, Instabilität. 

Die Sanktionen werden als eine Art Placebo-Politik eingesetzt – nach dem Motto: Wir haben unseren Job gemacht.

Auch jemanden wie Tarif Achras, der Cousin der First Lady kürzlich aus sehr unklaren Gründen von den EU-Sanktionen wieder ausgenommen wurde, würde ich wieder auf die Liste setzen. Warum sollte er die Möglichkeit haben, seine Kinder auf elitäre Schulen in Großbritannien zu schicken, während mein Cousin in Syrien sein Kind auf überfüllte und schlechte öffentliche Schule schicken muss? Als gegen Assad und seine Familie Sanktionen verhängt wurden oder gegen Rami Maklouf – das Symbol der Korruption in Syrien – haben sich die meisten Syrer*innen gefreut.

Außerdem: Wenn die Sanktionen aufgehoben würden, was würde passieren? Wenn Import und Export wieder möglich wären, ginge das große Stück vom Kuchen an das Assad-Regime und seine Clique, für die arme Bevölkerung würden nur etwas mehr Krümel abfallen.  Die soziale Ungerechtigkeit wird größer. Das Problem ist das System der Verteilung, nicht die Größe des Kuchenstücks.

Was müsste aus Ihrer Sicht passieren? 

Aktuell sind die Sanktionen vor allem ein Zeichen der Hilflosigkeit des Westens. Sie haben sich dafür entschieden, nicht zu intervenieren, und haben damit ein Vakuum hinterlassen, das Russland, der Iran und die Türkei gefüllt haben – und jetzt stehen sie ratlos vor den Konsequenzen. Mein Eindruck ist, dass die Sanktionen jetzt auch als eine Art Politik-Placebo eingesetzt werden, nach dem Motto: Wir haben unseren Job gemacht. 

Man kann die Hunderttausenden Menschen, die in Zelten hausen und deren Kinder nie eine Schule gesehen haben, nicht einfach alleine lassen.

Aber genau das dürfen wir nicht durchgehen lassen. Es müsste laufend evaluiert werden, welche der Sanktionen negative Auswirkungen auf die Bevölkerung haben, damit die Sanktionen so angepasst werden, sodass sie wirklich die Richtigen treffen. Mein Eindruck ist, dass die USA und die EU viel mehr Expertise und Ressourcen bräuchten, um das Instrument der Sanktionen zielgerichtet einzusetzen. Bei den personenbezogenen Sanktionen mangelt es an Sorgfalt, Transparenz, aber auch an einer „Lifting-Strategie“. Außerdem bräuchte es auch das Gegenteil von Sanktionen, und zwar nachhaltige Unterstützung für die notleidende Bevölkerung.

Wie genau könnte das aussehen?

Es werden in diesem Zusammenhang eigentlich viele gute Ideen diskutiert. Es gibt etwa den Vorschlag, eine Whitelist für bestimmte Dinge, Akteure und Regionen einzuführen, sodass medizinische Güter und andere lebensnotwendige Güter einfacher importiert und geliefert werden können. Allerdings bräuchte es auch Bedingungen für solche Importe, weil das Assad-Regime humanitäre Hilfe stets für seine Zwecke instrumentalisiert. Die Hilfsgüter müssten zum Beispiel direkt an notleidende lokale Communities geliefert werden. Das ist natürlich schwierig unter Assads Regime, aber nicht unmöglich.

Und es gibt ja auch Gebiete, die nicht unter Kontrolle des Regimes stehen. Auf einer White List könnten ja auch Regionen oder bestimmte Zielgruppen von den Sanktionen ausgenommen werden. Es wäre so wichtig, dass es für die Bevölkerung in Nordwest- und Nordost-Syrien nachhaltigere Unterstützung gibt als immer nur Zeltplanen und Lebensmittelpakete. Warum baut man nicht dort wieder auf, wo das Regime keine Kontrolle ausübt? Zum Beispiel in Raqqa? Warum baut man nicht Städte mit Schulen und Krankenhäusern, statt immer wieder elende Flüchtlingslager? Viele der Vertriebenen werden realistisch gesehen nie wieder in ihre Heimatorte zurückkehren können. 

Natürlich gibt es dafür politische Hürden – im Nordwesten etwa die expansive Politik der Türkei und HTS, im Nordosten die kurdisch geprägte Selbstverwaltung, die von der EU nicht anerkannt wird. Aber man muss doch zumindest im Norden dafür sorgen, dass sich die Situation sozioökonomisch stabilisieren kann. Man kann die Hunderttausenden Menschen, die in Zelten hausen und deren Kinder nie eine Schule gesehen haben, nicht einfach alleine lassen.

Große Teile der syrischen Bevölkerung dringend auf Hilfe angewiesen. Das gilt insbesondere in der Pandemie. Unsere Projektpartner*innen unterstützen unter anderem die Schwächsten der syrischen Gesellschaft: Die in den Norden Syriens vertriebenen Binnenflüchtlinge. Sie sind weiterhin militärischen Angriffen ausgesetzt und der Corona-Pandemie fast schutzlos ausgeliefert. Können Sie mit einer Spende helfen? Vielen Dank!