ES TRIFFT DIE FRAUEN

Abschiebungen nach Syrien setzen Frauen extremen Gefahren aus, die den meisten verborgen bleiben. Warum das Politiker*innen in Deutschland nicht gleichgültig sein sollte.

Es gibt grauenvolle Berichte aus Syrien, die sich mit einer gewissen Distanz noch ertragen lassen. Dieser Report hier ist keiner davon. Deshalb verzichten wir an dieser Stelle auf einen Einstieg, der Sie als Leserinnen ungebremst in das Thema steuert. Ganz im Gegenteil, wir wollen vor dem Lesen warnen, besonders diejenigen, denen die Erzählung zu nah gehen könnte: Es geht um Vertreibung, häusliche und sexualisierte Gewalt, um Mord und Selbstmord. Es geht um die bedrohliche Realität, der vertriebene und geflüchtete Frauen aus Syrien ausgesetzt sind – eine Realität, die sich durch Abschiebungen aus Ländern wie Deutschland noch weiter verschärfen könnte.

Adopt a Revolution unterstützt seit Jahren unter anderem mehrere Frauenzentren in Nordsyrien. Unsere Partnerinnen vor Ort geben alles, um Frauen und Mädchen Zukunftsperspektiven zu verschaffen. Auf die Frage, wen der Krieg in Syrien am härtesten trifft, lautet ihre Antwort einstimmig: Es sind die Frauen, die am stärksten leiden.

DAS ALIBI DER FREIWILLIGEN RÜCKKEHR

Im Sommer machte das Video eines syrischen Vaters in der Türkei die Runde. Auf seinem Schoß quengeln zwei kleine Kinder. In die Kamera flehte er, deren Mutter zurückzubringen. Diese war erst kurz zuvor von türkischen Behörden und ohne Vorwarnung nach Syrien abgeschoben worden. Ein Schicksal, das viele geflüchtete Familien ereilt und auseinanderreißt. Die Türkei führt jeden Monat um die 20.000 Schutzsuchende unter dem Deckmantel der „freiwilligen Rückkehr“ in die Ungewissheit zurück.

„Oft sind es aber die Männer, die abgeschoben werden. Frauen bleiben dann allein mit den Kindern zurück,“ sagt unser Partner Anas Al-Rawi aus Afrin. Er beobachtet die Situation an den Grenzen zur Türkei genau und stellt klar:

„Wenn wir von der ‚freiwilligen Rückkehr‘ sprechen, dann sind das meist Familien, also Kinder und Frauen, die ihren abgeschobenen Männern folgen müssen.“

Syrische Geflüchtete leben in der Türkei und im Libanon jeden Tag in einer Atmosphäre der Angst. Mit beiden Ländern hat die EU Flüchtlingsabkommen. Viele Männer trauen sich nicht mehr aus dem Haus oder Lager, aus Furcht vor willkürlichen Kontrollen und drohenden Abschiebungen. Stattdessen übernehmen oft die Frauen die Arbeit, da sie weniger im Fokus der Behörden stehen. Sie müssen lange Schichten leisten, zusätzlich zur Hausarbeit – der Druck auf sie ist enorm.

Zuhause entlädt sich der Frust der Männer über die ausweglose Lage häufig in Form von häuslicher Gewalt gegen ihre Partnerinnen. Wird der Ehemann abgeschoben, sind Frauen oft noch mehr Ausbeutung ausgesetzt. Viele berichten von Belästigung und Gewalt, doch nur wenige wagen es, Hilfe bei den örtlichen Behörden zu suchen. Die Angst, aufgrund fehlender Papiere selbst abgeschoben zu werden, ist einfach zu groß.

Die Angst vor der Abschiebung ist groß.

„Es ist wichtig zu verstehen, dass eine Rückkehr nach Syrien für Frauen lebensgefährlich ist. Viele haben im Krieg ihre Häuser verloren und mussten bereits mehrfach fliehen. In der Türkei sind sie zumindest vor Bomben sicher,“ sagt Souad Al-Aswad von der Fraueninitiative Change Makers in Idlib. Selbiges gilt übrigens nicht mehr für den Libanon, wo syrische Geflüchtete durch israelische Angriffe ums Leben gekommen sind. Das Leid und die Unsicherheit ist so groß, dass Syrerinnen vor den Bomben Israels nach Nordwestsyrien fliehen, wo die Bomben des Assad-Regimes auf sie warten.

DER KRIEG GEGEN FRAUEN

Dort leben allein in der Region Idlib mehr als zwei Millionen Binnenvertriebene in Flüchtlingslagern, die meisten sind Frauen und Kinder, die Ehemänner und Väter verloren haben.

Das Leben in Krieg und Konflikt ist für vertriebene Frauen ein niemals enden wollender Horror. Sie leiden nicht nur unter Armut, Hunger und Krankheiten. In den Lagern leben Frauen und Mädchen oft isoliert in ihren Zelten. Durch die Flucht haben sie ihr soziales Netzwerk verloren und sind besonders vulnerabel. Nicht selten werden sie in ihren Zelten oder unterwegs von Milizen angegriffen und vergewaltigt, wie unsere Partnerin Souad berichtet:

„Die steigende Zahl von Neugeborenen in den Waisenhäusern zeigt das erschütternde Ausmaß des Leids. Aus Angst vor Stigmatisierung vertuschen vergewaltigte Mädchen ihre Schwangerschaft oft und setzen die Babys so früh wie möglich aus.“

Aber nicht nur von Fremden geht Gewalt gegen Frauen aus, oft kommen die Täter aus dem eigenen Familienkreis. In Syrien steigt die Zahl von Femiziden, also die Tötung von Frauen wegen ihres Geschlechts. „Dass Frauen getötet werden und die Details nie ans Licht kommen, ist ein Muster,“ sagt Anas. Frauenorganisationen warnen vor der Zunahme sogenannter „Ehrenmorde“ nach Vergewaltigungen – Gewalttaten, die mit Ehre nichts zu tun haben.

Extreme Gewalt gegen Frauen ist allerdings kein syrienspezifisches Phänomen. In allen Konflikten weltweit ist der weibliche Körper unter Beschuss, denn Krieg verstärkt traditionelle Geschlechterrollen, das Patriarchat und damit den Machtmissbrauch der Männer. Mit dem Beginn des Kriegs in der Ukraine gingen beispielsweise viel mehr Meldungen bei der Polizei wegen häuslicher Gewalt gegen Frauen ein. Parallel häuften sich in Russland die Fälle von Femiziden. Zudem stieg im Zuge des Krieges der Menschenhandel mit Frauen und Mädchen aus der Ukraine, die auf der Flucht zur leichten Beute für kriminelle Netzwerke wurden.

Es muss aber nicht immer gleich Krieg sein, auch Krisen wie die Corona-Pandemie haben dazu geführt, dass Frauenmorde weltweit zunahmen.

NIMM DIR EIN MÄDCHEN AUS DEM LAGER – SIE KOSTET NICHT VIEL

Zur geschlechtsspezifischen Gewalt in Syrien gehört außerdem die Zwangsheirat. „Nimm ein Mädchen aus dem Lager – sie kostet nicht viel,“ diese brutale Bemerkung hat Anas schon öfter gehört. Was darauf folgt, sind Zwangsehen von oft minderjährigen Mädchen, die in der Regel zu einem Schulabbruch, frühzeitigen Schwangerschaften und damit einer Abhängigkeit vom Mann führen. Die drastische Veränderung ihres Lebens und die erlebte sexualisierte Gewalt in der Ehe führen häufig zu schweren psychischen Problemen. Für manche Frauen scheint der einzige Ausweg aus diesem Leid der Suizid zu sein.

Bereits die dürftigen Informationen, die sich zu Selbstmorden von Frauen in Syrien finden, sind erschreckend und zeigen bei weitem nicht das gesamte Ausmaß: Laut einer Statistik aus dem Jahr 2022 waren Mädchen in Syrien unter 18 Jahren die größte Gruppe in der Kategorie Tod durch Suizid.

Die Gründe für den Freitod von Mädchen und Frauen lassen sich nicht nur auf Zwangsehen zurückführen. Es ist ein komplexes Gebilde aus Benachteiligung, sozialem sowie wirtschaftlichem Druck, Misshandlungen und psychischem Stress durch Vertreibung.

Frauen in Syrien sind meist mehrfach vor Bombenangriffen und Gewalt geflohen. Die Schreckensbilder tragen sie mit sich.

So hoffnungslos die Situation für Frauen aussehen mag, unsere Partnerinnen denken über Lösungen nach. Mit mehr Ressourcen ließen sich Schutzräume in Form von Frauenhäusern errichten. Generell brauchen Frauen solide vier Wände um sich, in denen sie sich sicher fühlen können. Wichtig ist außerdem der Aufbau von Unterstützungsnetzwerken, die sowohl privat als auch bei rechtlichen Fragen helfen können.

Der lauteste Appell unserer Partnerinnen ist jedoch eindeutig: Stoppt die Abschiebungen! Nordsyrien, wohin aktuell die Mehrheit der Abschiebungen durch die Türkei erfolgt, ist extrem instabil. Die Flüchtlingslager sind überfüllt, viele Menschen sind obdachlos und die humanitäre Versorgung bricht zusammen.

Doch nicht nur die Türkei spielt eine Rolle. Auch im Libanon, wo viele Geflüchtete festsitzen, wird der Druck immer größer, sie zur Rückkehr zu drängen – selbst in die von Assad kontrollierten Gebiete, in denen Verhaftungen, Folter und Gewalt an der Tagesordnung sind. Vor dem Hintergrund der israelischen Offensive im Libanon und der Flucht syrischer Familie zurück nach Syrien, wollen sich libanesische Politiker am liebsten gleich aller Schutzbedürftigen im Land entledigen.

Doch sicher sind Geflüchtete in Syrien selbstverständlich nicht. Denn der Krieg ist dort längst nicht vorbei. Sie rennen von einem Verderben ins nächste.

Am Ende zahlen den höchsten Preis für diese Abschiebungspolitik, die bequem aus sicherer Entfernung entschieden wird, die Frauen in Syrien – egal, ob sie in Lager oder in die Hände eines brutalen Regimes geschickt werden. Auch Deutschland darf sich hier nicht aus der Verantwortung ziehen und muss Abschiebungen in diese unsicheren Gebiete konsequent stoppen.


Sollten Sie Hilfe brauchen, wenden Sie sich an das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ unter 116 016 (in 18 Sprachen).


Wenn Sie suizidale Gedanken haben, können Sie vertraulich und anonym Unterstützung bei der Telefonseelsorge unter der Nummer 0800 111 0 111 finden.