Suweida, Ende Juli 2025

Gewalt in Suweida: Syrien braucht eine politische Wende

Die begangenen Massaker, Vertreibungen und anhaltende Blockade markieren einen weiteren, furchtbaren Wendepunkt in der syrischen post-Assad-Transition. Unter keinen Umständen darf es so weitergehen. Welche Optionen bleiben für ein Syrien nach den Gewaltexzessen in Suweida? Eine Einschätzung unserer Partner*innen.

Suweida, Ende Juli 2025

Die Ereignisse in Suweida sind zur größten Herausforderung für Syriens Bemühungen um den Aufbau eines Staates seit dem Sturz des Assad-Regimes geworden: Der Bruch der Minderheiten mit den herrschenden Autoritäten ist spätestens jetzt komplett. Zaghaftes Vertrauen in die Übergangsregierung – so es denn in den ersten Monaten nach Assads Sturz überhaupt vorhanden war – völlig zerstört. Die drusische Gemeinschaft und andere Gruppen sehen sich zum jetzigen Zeitpunkt unter der Regierung Al-Sharaas systematisch bedroht. Für die Menschen in Suweida steht außer Frage: Mit dieser Regierung wird es keinen Staat geben, in dem alle gleichberechtigt leben. 

Der Schmerz ist unerträglich. Jede Familie in Suweida hat Angehörige verloren. Wir haben keine Hoffnung, dass die, die in Machtpositionen sind, uns schützen werden. Denn viele derjenigen, die jetzt an der Macht sind, haben schon früher Verbrechen begangen. Diese Täter hätten längst vor Gericht gestellt und aus Machtpositionen entfernt werden müssen.“

Partner in Suweida

Partner von Adopt a Revolution aus Suweida erklären, dass eine unabhängige Justiz gestärkt und diese als tatsächliche höchste Instanz im Land etabliert werden müsse. Dringend erforderlich seien zudem Gesetze, die identitätsbasierte Hetze unter Strafe stellen. Ebenso müsse eine nationale Armee aufgebaut werden, die alle Syrer*innen schützen könne – unabhängig von Herkunft oder Konfession. Ein inklusiver Gesellschaftsvertrag und eine inner-syrische Versöhnung, die zivilen Frieden begründen, könnten nur auf Grundlage dieser Maßnahmen geschaffen werden.

Es braucht außerdem ein sofortiges Ende der Blockade und eine unabhängige, internationale Kommission, die nicht mit der Regierung verbunden ist und sich auf die Aufarbeitung der Massaker an der Zivilbevölkerung spezialisiert. Wir haben keinerlei Vertrauen in die Regierung in Damaskus – insbesondere nachdem sie bereits einmal eine Kommission in die syrische Küstenregion entsandt hatte, deren Ergebnisse sehr enttäuschend waren. Die unabhängige und lückenlose strafrechtliche Verfolgung der Verantwortlichen für die jüngsten Massaker sollte selbstredend sein.“

Partner in Suweida

Da das Vertrauen in die aktuelle Regierung bei vielen vollständig oder zumindest nahezu komplett verloren ist, sind anderen Partner*innen zufolge mindestens tiefgreifende Veränderungen in der Führungsstruktur des Landes nötig, um einen Heilungsprozess zu ermöglichen.

Wir hoffen auf ein Ende der verdeckten Machtausübung im Hintergrund. Solange Hay’at Tahrir al-Sham (HTS) weiterhin allein die staatlichen Strukturen kontrolliert, wird es keine echte Überwindung konfessioneller Hetze geben. Wenn man die Ursachen dieser Spaltung wirklich bekämpfen will, muss man konsequent an die Wurzeln gehen – nicht nur an der Oberfläche kratzen.“

Partner in Damaskus 

Angst vor weiterer Gewalt

Spannungen und Gewalt gibt es derzeit nicht nur in der Provinz Suweida: In vielen syrischen Städten werden drusische Student*innen systematisch in Wohnheimen bedroht. Viele sind bereits geflohen und suchen in Privatwohnungen Zuflucht. Die Angst, dass sich Konflikte entlang ethnischer und konfessioneller Linien auf andere Regionen Syriens ausweiten, ist überall präsent. Die Region Suweida, deren Kontrolle die syrische Armee mit Gewalt übernehmen wollte, ist dabei in einer ähnlichen Situation wie der Nordosten Syriens: Auch dort, in den von der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien kontrollierten Gebieten, herrscht Misstrauen gegenüber der Regierung in Damaskus und ihren Verbündeten. Die Sorge, dass es zu einem ähnlichen Gewaltausbruch wie in Suweida kommt, ist groß.

Wir hoffen sehr, dass sich das Szenario von Suweida nicht im Nordosten Syriens wiederholt. Wenn das geschieht, wird es zu Massakern kommen – in einem Ausmaß, das wir uns nicht vorstellen wollen.“

Partner in Raqqa

Die wichtigste Forderung an die Übergangsregierung ist daher, den politischen Dialog zu suchen, statt mit Gewalt vorzugehen. Denn Gewalt würde Syrien nicht näher an Frieden oder Stabilität bringen – das müsse auch die Führung in Damaskus verstehen.

Durch die Ereignisse in Suwaida standen wir in Syrien am Rande eines konfessionellen Krieges. Es war, als stünde ein schlafender Vulkan kurz vor dem Ausbruch. Deshalb darf es in Zukunft nur friedliche Lösungen mit verschiedenen Parteien geben – ob es sich um die Autonome Verwaltung, lokale Gruppen oder andere handelt.“

Partner in Raqqa

Politischer Kurswechsel

Daran schließt sich eine weitere, umso dringendere Forderung an: die eines überfälligen politischen Kurswechsels.

Unsere einzige echte Chance ist, dass die Regierung – und insbesondere der Präsident – ihre bisherigen Fehler korrigieren und auf die vielen Initiativen aus der Bevölkerung reagieren. Wir brauchen einen ernst gemeinten, umfassenden und verbindlichen nationalen Dialog sowie eine überarbeitete Verfassungserklärung. Die Einbindung der HTS in staatliche Strukturen muss enden. Wir brauchen einen zivilen Staat – nicht ein System, das von einer bestimmten Gruppierung oder Konfession kontrolliert wird.“

Partner in Damaskus

Dabei müsse auch die Zivilgesellschaft eine stärkere Rolle spielen – nicht nur als Beobachterin oder Kritikerin der Übergangsregierung, sondern als Vermittlerin in lokalen Konflikten. Gerade in den von Gewalt betroffenen Regionen verfügen zivilgesellschaftliche Initiativen und lokale Gemeinschaften über ein tiefes Verständnis der Lage vor Ort – deutlich mehr als die derzeitige Übergangsregierung. Ein politischer Kurswechsel beinhaltet zudem, den Prozess der Übergangsjustiz konsequent und transparent einzuleiten.

Wir sprechen seit Beginn der Krise davon, dass echte Gerechtigkeit helfen kann, Spannungen abzubauen. Wir fordern eine glaubwürdige Übergangsjustiz, die öffentliche Verfahren gegen alle Verantwortlichen ermöglicht – unabhängig von deren ethnischer, konfessioneller oder politischer Zugehörigkeit. Ohne offene und konsequente Aufarbeitung steuern wir auf einen Zustand dauerhafter Instabilität zu. Die Gefahr, dass sich ähnliche Gewaltszenarien in anderen Regionen wiederholen, ist real.“

Partner in  Idlib

Die Krise ist tief, der Riss in der Gesellschaft groß. Ohne sofortige politische Kursänderung, Rechenschaftspflicht und ernsthafte nationale Versöhnung droht Syrien auseinanderzubrechen. Es braucht dringend eine inklusive Vision eines syrischen Staats und einen demokratischen Rahmen, der allen gleiche Rechte und echte politische Teilhabe garantiert. Die Basis dazu ist jedoch vor allem eines: Menschlichkeit.

Statt die Menschen in Suweida durch eine Blockade zu bestrafen, sollte die Regierung jetzt die Hand ausstrecken und die drusische Gemeinschaft in Suweida angemessen adressieren. Es braucht eine klare Ansprache, die ihren Schmerz und das Gefühl des Verrats anerkennt. Wir müssen wieder zusammenfinden, statt die Gräben weiter zu vertiefen. Unser Herz schlägt mit den Menschen in Suweida. Wir wollen keine Gewalt, wir wollen kein Töten. Wir wollen kein weiteres Blutvergießen.“

Partner in Damaskus