Obwohl in Idlib Abtreibungen bis zur sechsten Woche erlaubt sind, finden Frauen in der Realität keinen Arzt, der den Eingriff vornimmt. Die Folgen sind oft tödlich.

In den Tod getrieben: Abtreibungen in Idlib

Ein Abtreibungsverbot verhindert keine einzige Abtreibung, hat aber massive Konsequenzen für das Leben von Frauen. Auf der ganzen Welt werden die Selbstbestimmungsrechte von ihnen beschnitten – so auch in Syrien. Wir haben mit vielen Frauen in Idlib gesprochen – über ungewollte Schwangerschaften, gesellschaftliche Tabus und illegale Abtreibungen in einer Region, die von Krieg und Existenznot geprägt ist.

Obwohl in Idlib Abtreibungen bis zur sechsten Woche erlaubt sind, finden Frauen in der Realität keinen Arzt, der den Eingriff vornimmt. Die Folgen sind oft tödlich.

Seit dem 19.07.2022 ist es nun amtlich: Ärzt*innen dürfen in Deutschland straffrei über Schwangerschaftsabbrüche informieren – das Verbot, das noch aus dem Dritten Reich stammt, ist Geschichte. Ob das so bleibt, lässt sich kaum sagen. Denn sogar in der selbsternannten Vorzeigedemokratie USA steht es derzeit schlecht um das körperliche Selbstbestimmungsrecht von Frauen. Und auch in Deutschland sind Abtreibungen nach wie vor eine Straftat.

Dabei ist eines sicher: Mit einem Verbot wird keine einzige Abtreibung verhindert. Schwangerschaftsabbrüche finden weiterhin statt, nur dann zumeist unter widrigsten Bedingungen, die oft das Leben der Frau fordern. Je schwerer die allgemeinen Lebensbedingungen, umso verheerender die Folgen von Abtreibungsverboten. Trotzdem sind in zwei von drei Ländern weltweit Schwangerschaftsabbrüche verboten oder nur unter massiven Einschränkungen erlaubt.

Wie sieht das in Syrien aus? Frauen aus der Region Idlib haben uns von der Situation bei ihnen vor Ort erzählt und zum Teil ihre privaten Geschichten mit uns geteilt.*

*(aus Sicherheitsgründen haben wir alle Namen geändert. Wir kennen die Personen und haben mit ihnen selbst gesprochen.)

Religion, Gesellschaft, Patriarchat

Die Region Idlib steht unter der Kontrolle der islamistischen Miliz Hai’at Tahrir al-Sham (HTS). Schwangerschaftsabbrüche sind hier nur bis zur sechsten Schwangerschaftswoche offiziell erlaubt, die HTS richtet sich dabei nach etablierten religiösen Regelungen. Aber auch in diesem kurzen Zeitfenster sind Abtreibungen kaum möglich, weil sie gesellschaftlich tabuisiert und geächtet sind.

Dilal hat am eigenen Leib erfahren, was es heißt, kein Recht auf körperliche Selbstbestimmung zu haben: „Ich bin selbst Mutter von sechs Kindern und mittlerweile über 40 Jahre alt. Als ich 2018 schwanger wurde, war für mich klar, dass ich das Kind nicht bekommen möchte. Ich war krank und meine Lebenssituation in Idlib war sehr prekär. Ich bin von Arzt zu Arzt gerannt, denn nur bis zur sechsten Woche ist die Abtreibung legal. Aber die Ärzte haben mich immer wieder vertröstet und damit die Prozedur bewusst in die Länge gezogen, bis ich die sechste Schwangerschaftswoche überschritten hatte. Ich habe sie angefleht, dass ich eine Schwangerschaft und Geburt körperlich nicht mehr schaffen kann, aber niemand war bereit mir zu helfen. Ich bin da kein Einzelfall, es geht den meisten Frauen hier so. Wir müssen mit den körperlichen und psychischen Auswirkungen leben. Als ich dann im achten Monat war, mussten wir fliehen, weil das Assad Regime unsere Stadt Kafr Nubul eingenommen hatte. Es war unglaublich schwer für mich und ist es noch.“

Kein Arzt steht bereit – nicht mal im Notfall

Dilals Geschichte ist kein Einzelfall. Es ist für alle Frauen in Idlib nahezu unmöglich einen Arzt oder eine Hebamme zu finden, die bereit wären einen Schwangerschaftsabbruch vorzunehmen. Nur in sehr seltenen Einzelfällen kann es vorkommen, dass in den lokalen Gynäkologien ein solchen Eingriff durchgeführt wird – wenn es medizinische Gründe dafür gibt. Bei jeder Abtreibung muss dann allerdings der Ehemann der Abtreibung zustimmen. Unverheiratete Frauen haben somit keine Chance eine durchführen zu lassen.

Meistens werden Abtreibungen aber nicht mal zugelassen, wenn die Schwangerschaft lebensbedrohlich für die Mutter ist. Uns wird von einer Frau erzählt, die unter schwierigen Bedingungen in einem Flüchtlingscamp lebt und unter eine Vorerkrankung leidet, die eine Schwangerschaft für sie zur ernsten Gefahr macht. Trotz Risikoschwangerschaft hat sie niemanden gefunden, der einen Abbruch vornehmen wollte. Im siebten Monat kam es wie erwartet zu schwerwiegenden Komplikationen, welche die Frau nur knapp überlebt hat. Viele andere haben das Glück nicht.

Der letzte Rest Selbstbestimmung ist oft tödlich

Aber auch unkompliziert verlaufende Schwangerschaften können verheerende Folgen für das Leben der Frauen haben. Wie überall auf der Welt gibt es auch in Idlib illegale Abbrüche, die durch medizinisches Personal durchgeführt werden – beziffern lassen sich diese nicht. Klar ist aber, dass die Frauen im Zweifel dafür teuer bezahlen, denn sie bieten Raum für sexuelle Ausbeutung und Erpressung.

„Es gibt Ärzte, die Abtreibungen unter der Hand anbieten und Frauen dann damit erpressen oder während der Abtreibung sexueller Gewalt aussetzen.”

Marla

Viele Frauen versuchen deshalb auf eigene Faust eine Fehlgeburt einzuleiten. Denn ein Abtreibungsverbot und die Ermangelung an medizinischer Hilfe verhindern keine Schwangerschaftsabbrüche*, sondern führen weltweit zu unsicheren, teils lebensgefährlichen Abtreibungen.

*(Die Abtreibungsraten in Ländern mit Abtreibungsverboten sind in etwa gleich hoch wie in Ländern, in denen Abtreibung erlaubt ist.

“Welche Alternative haben denn auch die Frauen? Sie besorgen sich scharfe Gegenstände, um die Fruchtblase zu öffnen oder versuchen mit harten Unterleibsmassagen eine Fehlgeburt auszulösen. Oder sie versuchen ihre Körper mit übermäßiger körperlicher Anstrengung auszupowern, um einen Abgang des Fötus zu erzwingen. Damit setzen die Frauen aber ihr eigenes Leben aufs Spiel. Das ist das, was uns als Selbstbestimmung bleibt.“

Marla

Wie viele Frauen einen solchen Eingriff nicht überleben, ist schwer zu sagen. Denn das gesellschaftliche Tabu und die strengen Gesetze sorgen dafür, dass im Todesfall nach einer selbstdurchgeführten Abtreibung, der Mantel des Schweigens über die Todesursache gelegt wird. Wer trotzdem darüber spricht, wird als ungläubig deklariert und gesellschaftlich geächtet.

Die Folgen einer Schwangerschaft

Viele Frauen versuchen gar nicht erst, legal oder illegal eine Abtreibung durchzuführen, weil die Chancen so aussichtslos sind. Die Folge: Täglich werden ausgesetzte Säuglinge in Mülltonnen oder in der Nähe einer Moschee gefunden.

Einige schwangere Frauen sind sogar so verzweifelt, dass sie oft keinen anderen Ausweg mehr sehen, als ihr Leben selbst zu beenden – auch deswegen ist die Rate der Selbstmorde in der Region Idlib gestiegen. Und auch die eigene Familie kann zur Gefahr fürs eigene Leben werden:

“Neulich wurde eine Frau von ihrem Vater und Bruder in einer Mülltonne angezündet, weil sie schwanger war. Sie hat es nicht überlebt. Beide wurden zwar verhaftet, sie haben für den Mord aber eine milde Strafe bekommen, weil es eine „Frage der Ehre” gewesen sei. Es ist unglaublich, dass das immer noch nicht kriminalisiert ist. Das ist das gleiche wie beim Regime!”

Nasira

Körperliche Selbstbestimmung und reproduktive Gerechtigkeit geht nicht erst bei der Frage nach Abtreibungen los. Unsere Partnerinnen vom zivilen Zentrum Sawaedna betreiben gesundheitliche sowie sexuelle Aufklärung bei Frauen, um  langfristig eine gerechte Gesellschaft zu erschaffen, in der Frauen die gleichen Chancen und Rechte haben.

Lesen Sie dazu unseren Bericht aus Ariha: