Mitarbeiter des Entbindungs- und Kinderkrankenhauses in der Stadt Kafr Takharim nördlich von Idlib-Stadt protestieren gegen die Schließung des Grenzübergangs Bab al-Hawa: “Das Leben von Kindern, Frauen und älteren Menschen ist kein Spielball politischer Erpressung zwischen Nationen.”

Als Idlib fast unterging

Die Frage, ob der Grenzübergang Bab Al-Hawa für UN-Hilfslieferungen geöffnet bleibt, ist formal eine politische. De facto ist sie aber eine Existenzfrage für Millionen Menschen. Unsere Partner*innen vor Ort geben einen Einblick, wie sie die letzten Tage erlebt haben und wie sie die Entscheidung einordnen.

Mitarbeiter des Entbindungs- und Kinderkrankenhauses in der Stadt Kafr Takharim nördlich von Idlib-Stadt protestieren gegen die Schließung des Grenzübergangs Bab al-Hawa: “Das Leben von Kindern, Frauen und älteren Menschen ist kein Spielball politischer Erpressung zwischen Nationen.”

Jedes Jahr aufs Neue steht das UN-Mandat für grenzüberschreitende Hilfe dank Russland auf der Kippe. Jedes Jahr aufs Neue leben die Menschen im Nordwesten Syriens in der lähmenden Angst, dass es nun bald zu Ende sein könnte. Die erste Entscheidung des UN-Sicherheitsrates, dass die lebensrettende Hilfe tatsächlich eingestellt wird, hat die Menschen in Idlib schwer getroffen. Pure Erleichterung brachte daher die erlösende Nachricht, dass es zumindest für ein halbes Jahr weitergeht.

Wir haben unsere Partner*innen gefragt, wie sie mit der Situation umgehen. Nach jahrelanger Verfolgung, Bombardement, humanitärer Unterversorgung, einem Leben im permanenten Krisenmodus und einem konstanten Versagen der Internationalen Gemeinschaft wissen sie, dass es für sie keine Sicherheitsgarantie gibt – nicht mal bei der rudimentären Versorgung. Erleichtert sind sie trotzdem.

Raed, Zaitoun Magazin, Saraqib

“Wir haben die letzten Tage gebannt die Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrates verfolgt und gezittert, ob es wirklich zum Äußersten kommt. Die meisten hier sind Binnenvertriebene, die unmittelbar auf die Hilfslieferungen angewiesen sind. Sobald der Grenzübergang geschlossen wird, kommt hier keine Hilfe mehr an. Nichts. Das wäre eine menschengemachte, politisch forcierte Katastrophe, die uns die letzte Lebensgrundlage nimmt. Um es mal zu verdeutlichen: Für mindestens 2,5 Millionen Menschen wäre beispielsweise der Zugang zu sauberem Wasser von jetzt auf gleich gekappt. Medizin oder das Minimum an Nahrungsmitteln gäbe es dann nicht mehr. Das ist Wahnsinn.

Da ändert auch die sogenannte „Alternative“, die Hilfe über Damaskus abzuwickeln, nichts dran. Denn das Assad-Regime nutzt humanitäre Hilfe als Waffe gegen uns und lässt uns aushungern. Hier würde nichts ankommen. Das Ende der grenzüberschreitenden Hilfslieferungen wäre der Start einer vollständigen und unkontrollierbaren Hungersnot und eine direkte Bedrohung der Ernährungssicherheit von mehr als vier Millionen Syrer*innen. Dieses Schreckensszenario hat der UN-Sicherheitsrat mit der aktuellen Resolution vorerst verhindert. Aber für wie lang?“


Shakerdy, Ziviles Zentrum, Atareb

“Staaten begehen solch furchtbaren Grausamkeiten nicht einfach so zum Spaß. Es geht ihnen darum (macht-) politische Ziele durchzusetzen. Und dafür gehen sie im Zweifel auch über Leichen. An der Cross-Border-Entscheidung kann man sehen, wie Menschenleben in Syrien primär als Druckmittel genutzt werden, denn das Abkommen das dann doch noch getroffen wurde, basiert einzig auf drei strategischen Zielen Russlands:

1. Die massiven Spannungen mit dem Westen aufgrund des Ukraine-Krieges zu verringern, indem der Zugang von humanitärer Hilfe für Nordwestsyrien verlängert wird.

2. Imagepflege. Russland versucht sein Bild als kriminell agierender Staat, das sich insbesondere durch den Ukraine-Krieg intensiviert hat, zu revidieren, indem es notwendige humanitäre Hilfsgüter bewilligt. 

3. Der Aufbau von Druckmitteln gegen die Türkei und Austausch von gegenseitigen Interessen, weil diese wiederum andere Gebiete im Norden kontrolliert.

Der stärkste Trumpf in Russlands Händen in seinem Krieg gegen die Ukraine, gegen die Türkei und die Europäische Union ist Syrien.


Diyar, PÊL Civil Waves Zentrum, Qamishli

“Wir befinden uns zwar im Nordosten, wir haben das Geschachere im UN-Sicherheitsrat trotzdem mitverfolgt. Wir können die Ängste der Menschen in Idlib nachfühlen – wir haben ja dasselbe erlebt. Auch unser Grenzübergang wurde geschlossen. Solche Entscheidungen über grenzüberschreitende UN-Hilfe betreffen uns alle – hier wie dort. Denn es zeigt uns einmal mehr auf, dass die Bereitschaft sinkt, uns hier in Syrien zu helfen. Die direkte Konsequenz ist dann auch die Reduzierung der Hilfen für Nordost-Syrien. Ehrlicherweise stehen wir aber derzeit vor noch ganz anderen Problemen: Wir leben gerade selbst in sehr großer Angst – die Türkei hat eine Militärinvasion angekündigt und wir haben keinen Zweifel, dass sie das auch umsetzt. Und was dann?”