Mehr als die Hälfte aller Syrer wurden seit 2011 aus ihren Häusern vertrieben, 6,5 Millionen Menschen sind „internally displaced“ – ein Begriff, der im Deutschen oft mit „Binnenflüchtlinge“ übersetzt wird. Auf Syrien angewandt ist diese Übersetzung jedoch ungenau: Die Menschen, die nicht mehr in ihrem Dorf, ihrer Stadt, ihrer Region leben können, sind oft nicht einfach nur vor dem Krieg geflohen – ein großer Teil von ihnen wurden planmäßig vertrieben. Das Assad-Regime folgt einer Strategie der Zwangsumsiedlung.
Große Teile von Homs waren seit Ende 2011 umkämpft, sowie Belagerungen und heftigen Bombardements ausgesetzt. Es kam zu Kriegsverbrechen und Massakern. Zwischen 2012 und 2014 dezimierte die vorrückende Armee systematisch die aufständischen Stadtviertel, trieb die Menschen erst in andere Viertel und letztlich aus der Stadt. Das Vorgehen des Assad-Regimes in Homs wurde zur Blaupause für die Strategie, die es in zahlreichen weiteren Orten anwenden sollte – von Daraya über Moadamiyah und Qudsaya bis Ost-Aleppo. Mit Hungerblockaden, Bombenterror und der systematischen Zerstörung ziviler Infrastruktur zwingt man die Menschen erst in die Unterwerfung und dann in andere Regionen.
“Natürlich würde ich gerne zurückkehren, aber mein Name steht auf den Listen des Regimes und diese Viertel sind heute unbewohnbar und zerstört. Und ich könnte nur dann zurück, wenn ich wüsste, dass Bashar, seine Gang und jene, die an der Ermordung meiner Freunde beteiligt waren nicht mehr da sind“– Abdul-Rahman, Vertriebener aus Homs
Vertreiben und neu sortieren
Das Rechercheprojekt The Syria Institute und die niederländische Friedensorganisation PAX untersuchen in einer neuen Studie, welche Folgen diese Bevölkerungspolitik für die Zukunft Syriens hat. Anhand der Hintergründe der Belagerung und Zerstörung von Homs, sowie mithilfe von Interviews und Umfragen zeigt der Bericht No Return to Homs – A case study on demographic engineering in Syria, „dass die von der Regierung in der Stadt Homs angewandte Strategie der Vertreibung eine Form der Bevölkerungspolitik ist, die darauf abzielt, die Bevölkerung nachhaltig nach konfessionellen Linien zu sortieren, um so die Macht der Regierung zu konsolidieren“.
Kurzfristig dient diese Strategie einer Machtverschiebung zugunsten des Assad-Regimes, langfristig aber hat sie schwerwiegende sozioökonomische und kulturelle Implikationen und stellt das Land vor eine harte Probe.
Heute, zweieinhalb Jahre nach der Rückeroberung, lebt Schätzungen zufolge noch die Hälfte der ursprünglichen Bevölkerung in Homs. Ganze Stadtteile sind noch immer entvölkert. Die aus Homs vertriebenen Menschen müssen auch weiterhin Verfolgung fürchten und leiden in anderen Teilen Syriens weiter unter Belagerung und Bombardements.
Entrechtet und des Eigentums beraubt
Die Interviewten zeigen anhand vieler Beispiele auf, mit welchen Hürden ihnen das Regime die Rückkehr in ihre Heimatstadt verwehrt. Unter anderem wurden Häuser von Vertiebenen mithilfe gefälschter Unterlagen weiterverkauft. Derweil bemüht sich das syrische Regime darum, die neuen Verhältnisse gesetzlich zu zementieren. So unterschrieb Bashar al-Assad im Mai 2016 ein Dekret, das die Digitalisierung der Grundbucheinträge vorsieht und angesichts der weit verbreiteten Fälschungen und der Zerstörung vieler papierbasierter Daten eine Rückgabe von Eigentum an die eigentlichen Besitzer verunmöglicht. Ferner werden politischen Gefangenen die Eigentumsrechte aberkannt.
In Homs will das syrische Regime nun endlich sein Projekt „Homs Dream“ realisieren. Diese Restrukturierungspläne betreffen das Stadtzentrum und wurden bereits lange vor 2011 angestoßen. Ab 2009 gingen sie vermehrt mit Räumungen und Beschlagnahmungen einher und vertrieben Leute aus den betroffenen mehrheitlich sunnitischen Vierteln, sodass die Anwohner das Projekt in „Albtraum Homs“ umtauften.
Die Pläne sehen den Abriss weiter Teile des Stadtzentrums und die Errichtung von Hochhäusern und Einkaufszentren vor. 2015 brachte die syrische Regierung Maßnahmen auf den Weg, um diese Pläne für die Stadtteile Jobar und Baba Amr nun endlich umzusetzen. Gerade letzteres Viertel galt als die Hochburg der Opposition in Homs und wurde durch Assads Armee und Milizen fast gänzlich dem Erdboden gleichgemacht. Die Autoren der vorliegenden Studie konstatieren, dass dies darauf hindeute, dass „das Regime plant, aus der Zerstörung ziviler Wohngegenden Kapital zu schlagen und seine bereits aus der Vorkriegszeit stammenden Pläne für den demografischen Austausch ohne Widerstand durchzusetzen. Vergleichbare Stadtumbaupläne, die die lokale Demografie nachhaltig verändern und die Rückkehr der Vertriebenen verhindern, wurden bereits für andere entvölkerte Gegenden wie Daraya angekündigt.”
“Niemand wagt in diese Viertel zurückzukehren. Hätten wir die Erlaubnis dazu, würde uns die Shabiha [pro-Assad-Miliz] umbringen. Die Gegend ist unbewohnbar. Kein Wasser, keine Elektrizität, kein Haus steht mehr, nichts ist geblieben“– Muhannad, Vertriebener aus Homs
Dank UN und internationalen Geldgebern: Assad profitiert von Kriegsverbrechen
In Homs sollen den Plänen des Regimes nach künftig offenbar andere Menschen leben. Dafür wird Homs mit Hilfe der UN und anderen internationalen Geldgebern wieder aufgebaut – die dadurch die Strategie der Zerstörung ganzer Städte und der Vertreibung der Bevölkerung für das Assad-Regime erschwinglich machen.
Zugespitzt formuliert: Die internationalen Hilfen für den Wiederaufbau wirken wie Subventionen für Assads mörderische Vertreibungspolitik. Assad profitiert von seinen Kriegsverbrechen, statt für sie bestraft zu werden. Kein Wunder, dass das Regime die in Homs erprobte Strategie immer wieder anwendete und vielerorts auf ähnliche Lösungen hinarbeitet. Ein fatales Signal an diktatorische Herrscher auf der ganzen Welt.
Schwerwiegende Folgen für Wiederaufbau und Versöhnung
Die Vertreibung von Menschen aus ihren Häusern und Communities hat gravierende ökonomische und psychosoziale Folgen für die Betroffenen – und aller Voraussicht nach auch gravierende Folgen für jede denkbare Lösung des Konfliktes: Die Vertreibungspolitik wird Fragen nach einem Recht auf Rückkehr und entsprechenden Eigentumsrechten aufwerfen. Das gravierende Unrecht, das den Betroffenen wiederfährt, und die bewusste Konfessionalisierung des Konfliktes werden einen nachhaltigen Frieden extrem erschweren.
Die internationalen Hilfen für den Wiederaufbau von Homs und anderen Städten dürften daher nicht losgelöst von der Frage nach der Wiederherstellung von Gerechtigkeit für die Vertriebenen erfolgen, folgert der Bericht. Er empfiehlt daher, dass internationale Akteure wie die UN, die Wiederaufbauhilfe leisten, den Vertriebenen vor Beginn des Wiederaufbaus Gehör schenken müssen, dass ihre Bedürfnisse in den Planungen berücksichtigt werden müssen und dass sichergestellt wird, dass die Vertriebenen zurückkehren können.
Und nicht zuletzt macht die Studie klar: Vertreibung ist ein Kriegsverbrechen, das bei Weitem nicht genug Aufmerksamkeit erfährt. Internationale Beobachter und Institutionen müssen im Auge behalten, was geschieht, nachdem das Gefechtsfeuer verstummt ist. Denn für Millionen hört die Ungerechtigkeit damit nicht auf.
Lesen Sie hier den ganzen Bericht No Return To Homs – A case study on demographic engineering in Syria