Der Nobelpreis 2020 – und der Fall Syrien

Der Friedensnobelpreis 2020 geht an das Welternährungsprogramm der UN. Gut so, in der Welt der Autokraten ist Multilateralismus wichtig. Aber ohne Kritik für ihre Rolle in Syrien lassen wir die UN-Organisation trotzdem nicht davon kommen.

Hunger in Syrien ist wieder eine echte Gefahr geworden. Das hat mehrere Gründe. Zum einen steigen landesweit die Lebensmittelpreise, weil die syrische Wirtschaft nach Jahres des Kriegs und in Folge von Sanktionen zusammenbricht und der Staat die Subventionen reduzieren muss. Gleichzeitig verhinderten aber auch Russland und China, dass Geflüchtete in Nordsyrien, die also außerhalb der Kontrolle des Assad-Regimes leben, mit UN-Hilfe versorgt werden können: Auf russischen Widerstand hin wurde seit Anfang des Jahres die Zahl der Grenzübergänge für UN-Organisationen von vier auf einen einzigen reduziert. Schließlich hält Russland aktuell auch noch Weizenlieferungen zurück, um damit Druck auf das Assad-Regime auszuüben, aktiver an internationalen Verhandlungen teilzunehmen.

Nach Schätzungen des Trägers des diesjährigen Friedensnobelpreises, des Welternährungsprogramms, sind 9,3 Millionen Syrer*innen in Gefahr, nicht genug Lebensmittel zu bekommen – so viele, wie noch nie.

Hunger als Waffe: Unser Flugblatt zur Strategie des Aushungerns in Syrien

Dabei war Hunger in Syrien schon vor Jahren ein großes Thema: Im Winter 2013/2014 starben im abgeriegelten palästinensischen Flüchtlingslager Yarmouk im Süden von Damaskus Menschen an Unterernährung. Ein Jahr später verhungerten Kinder in Madaya, nahe der Grenze zum Libanon, und bis 2016 waren 414 Menschen in Syrien direkt an Hunger gestorben. Alle Hungertoten starben in Gebieten, die durch das Assad-Regime und seine Verbündeten belagert wurden. Im Winter 2017/2018 richtete Adopt a Revolution in Kooperation mit medico international eine Schulspeisung im belagerten und bombardierten Erbin ein, damit die Kinder überhaupt noch dem Unterricht folgen konnten.

Doch warum konnten Menschen in Syrien verhungern, da die verschiedenen UN-Organisationen doch alle im Land arbeiteten? Dieser Frage muss sich das Welternährungsprogramm stellen. Einige Antworten gibt der Bericht „,Taking Sides‘ – Die Abkehr der UN von Unparteilichkeit, Unabhängigkeit und Neutralität“ (pdf).

Der Bericht „Taking Sides“ über das Versagen der UN-Hilfe in Syrien (pdf)

„Humanitäre Maßnahmen müssen ausschließlich aufgrund der Bedürftigkeit durchgeführt werden, die dringendsten Notlagen müssen Vorrang haben“, heißt einer der UN-Grundsätze. Doch um die Zusammenarbeit mit dem Assad-Regime nicht zu riskieren, gingen UN-Organisationen hierbei offenbar Kompromisse ein. Weil der syrische Staat UN-Mitarbeiter*innen Visa und Genehmigungen für Einsätze erteilen muss, braucht es eine Zusammenarbeit mit der syrischen Regierung. Gleichzeitig braucht auch das syrische Regime die internationale Hilfe, um den Menschen in seinem Herrschaftsbereich überhaupt lebensnotwendige Güter zur Verfügung stellen zu können. Doch offenbar entschied sich zumindest das Welternährungsprogramm (Word Food Programme – WFP) zu einer recht sanften Strategie gegenüber dem Regime:

Die Führungsebene hat entschieden, dass es seinem Interesse – nämlich Nahrungsmittel an möglichst viele Menschen zu liefern – zu Gute kommt, enge Beziehungen mit der syrischen Regierung beizubehalten und Verhandlungen um weiteren Zugang hinter verschlossenen Türen zu führen.

Aus: An Evaluation of WFP’s Regional Respons to the Syrian Crisis 2011-2014, WFP Office of Evaluation

Dass diese Verhandlungen nicht erfolgreich waren, zeigen die Statistiken: Während 100% der Hungertoten in Syrien in Gebieten unter Belagerung des Assad-Regimes und seiner Verbündeten starben, lebten Anfang 2016 ganze 96% derjenigen, die Lebensmittelhilfe durch das WFP bekamen, in Gebieten unter Kontrolle des Regimes. Zu einer Revision der Strategie führte das offenbar nicht und auch künftig schien der Erfolg auszubleiben: Während der rund zweieinhalb Monate andauernden, finalen Offensive des Assad-Regimes und seiner Verbündeten auf Ost-Ghotua erreichten lediglich sechs Transporte (pdf) die rund 350.000 Belagerten.

Bericht über die Belagerung von Ost-Ghouta von SiegeWatch (pdf)

Die Auszeichnung mit dem Friedensnobelpreis ehrt eine internationale Organisation, die weltweit Großes leistet. Millionen von Menschen versorgt das Welternährungsprogramm mit rettender Hilfe. Aber hoffentlich ist der Moment der Ehrung auch der richtige, sich kritische Fragen zu stellen: Wie kann die Arbeit der Organisation auch in schwierigem politischem Umfeld erreichen, dass die Bedürftigsten wirklich als erstes versorgt werden? Welche Kompromisse sind tragbar in der Zusammenarbeit mit repressiven Regimen, die auch vor schwersten Menschenrechtsverbrechen nicht zurückschrecken? Welche Lehren lassen sich aus dem Einsatz in Syrien ziehen, in dem zahlreiche UN-Organisationen, auch das Welternährungsprogramm, ihre Unparteilichkeit ein ganzes Stück weit verloren haben?

Nicht nur wegen der zahllosen Vetos im Sicherheitsrat hat die UN wegen der letzten Jahre Syrien viel an Glaubwürdigkeit eingebüßt – das Handeln der anderen UN-Organisationen trägt dazu bei. Wenn der heute verliehene Nobelpreis dazu beiträgt, die Schutzbedüftigsten wieder in den Mittelpunkt zu stellen, dann wäre viel gewonnen.