Mit dem Vorrücken der syrischen und russischen Truppen zu Beginn des Jahres verschwand zeitgleich die dschihadistische Miliz Hai’at Tahrir al-Sham (HTS) aus den von der Regime-Offensive betroffenen Gebieten Idlibs. Mit sich nahm sie bedeutende Teile der Infrastruktur, die für das Leben unabkömmlich sind – zum Beispiel Generatoren. Alles, was von Wert war, nahmen die Kämpfer mit, selbst ganze Stromleitungen wurden abgebaut. Zurück blieb die Zivilbevölkerung, die es nicht rechtzeitig oder aus eigener Kraft geschafft hatte, die Orten zu verlassen.
Erst mit der Waffenruhe Anfang März kam allmählich auch die HTS zurück – allerdings schwächer denn je. Das ist insbesondere in Zeiten von Corona ein Glücksfall, wie unsere Partnerin Leila berichtet: „Bislang hat uns die HTS ständig neue, repressive Regeln aufgedrückt. Jetzt ist sie so schwach, dass wir in diesen Krisenzeiten effektive Selbstorganisation leisten können. Wir können freier arbeiten, sie lassen uns in Ruhe.“
Hilfe zur Selbsthilfe
Wie überlebenswichtig zivilgesellschaftliche Arbeit insbesondere in der Corona-Krise ist, zeigt sich exemplarisch am Gesundheitssektor. Zwar fordert die HTS für sich ein, Herrscherin über Idlib zu sein, um die Gesundheit der Menschen hat sie sich bislang jedoch wenig gesorgt. Sie war weder gewillt, noch in der Lage auch nur ansatzweise ausreichende medizinische Versorgung zu gewährleisten. Diese wird daher von lokalen Organisationen betrieben – mit der wenigen Ausstattung, die ihnen aus eigenen Mitteln zur Verfügung steht. Schließlich wurden viele medizinische Einrichtungen durch gezielte Luftangriffe des Assad-Regimes und seiner russischen Partner zerstört.
Auf Unterstützung der HTS braucht hier niemand zu hoffen. Ganz im Gegenteil: „Vergangenen Freitag sollte hier in Idlib eigentlich das Freitagsgebet ausfallen. Es ist ein zu großes Risiko, weil sich zu viele Menschen auf einem kleinen Platz ansammeln. Das Freitagsgebet nicht stattfinden zu lassen, wäre der einzige verantwortungsvolle Umgang mit der Pandemie gewesen. Aber dann hat ein geistiger Führer der HTS eine Anweisung per Videobotschaft erlassen. Darin setzt er es unter Strafe, das Freitagsgebet ausfallen zu lassen, solange noch keine Corona-Fälle nachgewiesen wurden. Bei solchen Aussagen frage ich mich, wer soll uns hier schützen?“, so Leila.
Wie lange bleibt die Türkei?
In der Vergangenheit hatte sich die Zivilgesellschaft immer wieder gegen HTS aufgelehnt und gegen die Dschihadisten protestiert. Viele unserer Partner*innen arbeiten vor Ort in Zivilen Zentren aktiv daran, die Bevölkerung zu unterstützen und mit friedlichen Mitteln gleichzeitig gegen Diktatur und Dschihadismus vorzugehen. „Wir wollen eine pluralistische Gesellschaft, soziale Gerechtigkeit, Gleichberechtigung und Freiheit“, erläutert unser Partner Anas. „Dafür müssen wir den Bürger*innen eine aktive Rolle in der Gesellschaft einräumen, sonst funktioniert Demokratie nicht.“
In Zeiten von Corona sind sie allerdings – auch weil es kaum internationale Unterstützung gibt – primär damit beschäftigt, einen Ausbruch des Virus so gut und lang es geht zu verhindern. Denn dieses würde die humanitäre Situation in Idlib massiv verschärfen.
Und auf die Bevölkerung Idlibs könnte bald ein weiteres existenzielles Problem zukommen: Zwar sind türkische Soldaten sicherlich keine Verteidiger liberaler Werte in Idlib, aber ihre Präsenz ermöglicht derzeit, dass der Waffenstillstand hält. Sollte die Türkei im Falle eines Ausbruchs des Corona-Virus ihre Truppen aus Idlib wieder abziehen, könnte das Assad-Regime mit seinen Verbündeten diese Gelegenheit ausnutzen und eine neue Offensive starten.
Dabei bietet die Terrormiliz HTS jedenfalls keine Rechtfertigung dafür, den Waffenstillstand aufzuheben, denn der Einfluss des syrischen al-Qaida-Ablegers ist geringer denn je. Und die lokale Zivilgesellschaft arbeitet daran, dass das auch so bleibt. Für Anas und viele andere hier ist und bleibt die HTS „nur eine weitere Diktatur“.