
In der syrischen Küstenregion wurden grausame Massaker an Zivilist*innen verübt, vor allem an der alawitischen Bevölkerung. Ihr Dorf war stark betroffen. Wie haben Sie die letzte Woche erlebt?
Es waren furchtbare Tage voller Angst und Ungewissheit. Die Massaker waren brutal, und niemand weiß genau, wie viele Menschen getötet wurden. In meinem Dorf leben viele Alawit*innen – ein Drittel der Bewohner gehört dieser Gemeinschaft an –, doch bisher ist keiner von ihnen zurückgekehrt. Viele sind in Richtung Küste geflohen, in der Hoffnung, dort Schutz zu finden oder bei Verwandten unterzukommen. Wir haben bisher keine Informationen darüber, was mit ihnen geschehen ist. Ihre Häuser wurden geplündert, und es gibt keine ernsthaften Bemühungen der Regierung, sie sicher wieder zurückzubringen. Aktuell werden immer wieder Leichen außerhalb der Dörfer gefunden. Ich gehe davon aus, dass die Opferzahlen viel höher sind als die Zahlen, die wir bisher kennen.
Wie ist die Situation jetzt? Gibt es noch Kämpfe?
Im Moment ist es ruhiger. Seit der Sitzung des UN-Sicherheitsrates und der Veröffentlichung des Verfassungsentwurfs gab es keine neuen Massaker oder Hausdurchsuchungen. Schulen, Universitäten und Arbeitsstätten haben wieder geöffnet.
Wie konnte es zu dieser flächendeckenden Gewalt kommen?
Das größte Problem sind Waffen. Nach dem Sturz des Regimes musste die alawitische Bevölkerung ihre Waffen abgeben. Den Alawit*innen wurde pauschal vorgeworfen, Assad weiter zu unterstützen. Seine eigentlichen Anhänger sind aber längst geflohen und verstecken sich irgendwo in den Bergen oder im Libanon. Sunniten wurden dahingegen bisher nicht aufgefordert, die Waffen abzugeben. Die Regierung darf nicht länger nachlässig sein und muss dringend alle Seiten entwaffnen, denn bereits eine kleine Gruppe bewaffneter Männer kann ein ganzes Dorf überfallen und plündern. Doch bisher unternimmt sie nichts dagegen.
Maßnahmen gegen die Gewalt
Wie bewerten Sie die Reaktion der Übergangsregierung auf die Massaker?
Ihre Maßnahmen sind unzureichend und einseitig. Das Komitee, das mit der Aufarbeitung der Massaker beauftragt wurde, besteht aus einer bestimmten Gruppe, ohne Beteiligung der Opferangehörigen oder Alawit*innen. Auch die neu ins Leben gerufene „Kommission für gesellschaftlichen Frieden“ ist nicht neutral besetzt. Solange politische und ideologische Einseitigkeit dominiert, gibt es kein Vertrauen in diese Gremien.
Sie vermuten, dass die tatsächliche Zahl der Opfer viel höher ist. Warum?
Viele Menschen haben Angst, offen über die Geschehnisse zu sprechen. Außerdem gibt es kaum unabhängige Medien, die die Ereignisse objektiv dokumentieren. Stattdessen verbreiten sich verzerrte oder gefälschte Informationen – manche Quellen stehen etwa den Sicherheitskräften und bewaffneten Gruppen nahe und haben kein Interesse daran, das ganze Ausmaß der Gewalt offenzulegen.
Welche Maßnahmen könnten verhindern, dass sich solche Massaker wiederholen?
Eine Möglichkeit wäre, den gesellschaftlichen Frieden und mehr Dialog zu fördern. Es ist wichtig, dass die Zivilgesellschaft Brücken zwischen den verschiedenen Gruppen baut und Werte wie Gleichberechtigung und Bürgerrechte stärker betont. Wir haben damit begonnen, mit Menschenrechtsaktivist*innen aus allen Teilen der Bevölkerung in Kontakt zu treten. Es gibt bereits Besuche und Gespräche zwischen Dörfern in der Region, um Spannungen abzubauen.
Auch Hetzkampagnen in sozialen Medien müssen unbedingt gestoppt werden, und Friedensprojekte sollten viel mehr Unterstützung erhalten. Außerdem braucht es dringend eine Lösung für die wirtschaftliche Krise im Land.
Inwiefern?
In den Küstenregionen arbeiteten zahlreiche Menschen im Staatsdienst. Doch etliche wurden entlassen und ihre Gehälter wurden gestoppt. Das hat zu einer massiven wirtschaftlichen Krise in diesen Gebieten geführt. Diese Herausforderung muss als erstes angegangen werden, um die Situation zu stabilisieren. Es braucht Maßnahmen, um die Arbeitslosigkeit zu beenden.