Vor einigen Tagen berichteten wir über die derzeitige Durchsuchungs-, Festnahme- und Abschiebewelle gegen Syrer*innen in der Türkei. Kannst du uns einen Einblick über die Situation in der Türkei geben? Was geschieht gerade mit Syrer*innen?
Nach der Bürgermeisterwahl in Istanbul behaupteten die Behörden, dass zu viele Syrer in Istanbul leben, die nicht hier sein dürften. Sie arbeiten und leben in Istanbul, haben aber keine Kimlik, also keine Identifikationsnummer, die dir sagt, wo in der Türkei du dich aufhalten musst und arbeiten darfst. Ein Dekret wurde veröffentlicht, dass Syrer*innen aufforderte bis zum 20. August in ihre ursprünglich zugewiesene Provinz zurückzukehren. Außerdem wurden unregistrierte Syrer*innen einer Provinz außerhalb Istanbuls zugewiesen werden. Die Forderung kam sehr unerwartet. Plötzlich waren sehr viele Polizist*innen aktiv, die für die Umsetzung des Gesetzes gesorgt haben. Es gab massive und gezielte Razzien gegen Syrer*innen, bei denen ihre Kimlik überprüft wurden.
Es leben insgesamt 3,6 Millionen Syrer*innen in der Türkei. Schätzungen besagen, dass Hunderttausende von ihnen in Istanbul unregistriert leben. Warum hängen so viele Syrer*innen an der Stadt?
Die syrischen Geflüchteten sind nach Istanbul gekommen, weil sie sich eine ökonomische Zukunft erhofft haben und man dort besser als woanders leben konnte. Aber auch hier nehmen sie viel in Kauf. Syrer*innen arbeiten ohne grundlegende Arbeitsrechte zu haben, ohne Sozialversicherung, Krankenversicherung oder ähnliches. Wenn du ein Problem mit deinem Arbeitgeber hast, kannst du dich nicht beschweren, weil du nicht offiziell in der Stadt eingetragen bist. Du hast plötzlich keine Möglichkeiten mehr auf dein grundlegendes Recht zu bestehen.
Du hast gesagt, dass die Polizei gerade sehr aktiv ist. Was passiert nach so einer Festnahme?
Den Syrer*innen werden Papiere vorgelegt, die sie unterschreiben müssen. Diese sind allerdings auf Türkisch. Es gibt keine Dolmetscher*innen. Die Dokumente besagen, dass wenn man ihnen mit einer Unterschrift zustimmt, man freiwillig nach Syrien zurückkehren wird. Wie absurd ist das? Man wird dazu gezwungen, ein Dokument zu unterschreiben, um freiwillig nach Syrien zurückzukehren? Das ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit! Hier wird mit dem Gesetz gespielt. Eine scheinbar freiwillige Rückkehr wird auf dem Papier erzwungen.
Warum dieses harsche Vorgehen gegen Syrer*innen?
Es gibt einen sehr starken Rassismus gegen Syrer*innen in der Türkei. Über Fake News verbreiten sich medial Lügen über uns, die viele Türk*innen glauben. Zum Beispiel gibt es das Gerücht, dass wir viel mehr Sozialleistungen erhielten, als Türk*innen. Oder dass wir leichter an Universitäten angenommen würden. Das stimmt alles einfach nicht. Es gibt also viele Lügen, die als Wahrheiten dargestellt werden. Diese Lügen gepaart mit einer schlechten wirtschaftlichen Lage in der Türkei sind für uns brandgefährlich.
Wieso reagiert die türkische Regierung gerade jetzt so hart auf Syrer*innen?
Erdogans Regierungspartei AKP hat große Sorgen, nachdem sie die Bürgermeisterwahlen in Istanbul verloren hat. Sie schieben jetzt die innenpolitischen Probleme auf Syrer*innen, um von ihrer Verantwortung abzulenken. Zwar hat die Türkei schon lange ein Problem mit der PKK, doch sogar dieser Konflikt wird gerade auf die Syrer*innen geschoben, sodass wir als Ursprung allen Übels gesehen werden. Vor allem aber sind es die ökonomischen Probleme, die man uns anlastet. Die schlechte Wirtschaftslage führt zu Sozialneid, was wiederum in Hass umschlägt.
Offiziell bestreitet die Regierung in der Türkei, dass nach Syrien abgeschoben wird. Dem widersprechen ganz viele nun bekannt gewordene Fälle. Kannst du uns ein Beispiel geben, wie die Behörden gerade abschieben?
Nachdem bekannt wurde, dass Menschen abgeschoben wurden, kam heraus, dass einige von ihnen sogar unter 18, also Kinder waren. Ein 15-jähriger Junge wurde beispielsweise von der Polizei angehalten. Er lebt mit seinen Eltern und besitzt sogar eine Kimlik für Istanbul, die er zum Zeitpunkt der Verhaftung allerdings zu Hause gelassen hatte. Er wollte seine Eltern anrufen, damit sie ihm die Kimlik holen, doch das interessierte die Polizei nicht und sie schoben ihn ab. Die Polizei in der Türkei hat ein klares Rassismusproblem. Die Menschen wurden in den sicheren Tod geschickt.
Du selbst wohnst ja auch in Istanbul, obwohl du woanders sein müsstest. Wie geht es dir mit der Situation gerade?
Ich war für eine Woche nur zu Hause. Ich bin nicht rausgegangen. Wenn ich Essen und Trinken holen wollte, bin ich sehr spät rausgegangen und habe auch nur kurze Wege genommen. Ich habe gerade keine andere Wahl, außer in meine Region zurückzukehren. Ich möchte mich für die Universität in Istanbul bewerben, um permanent und legal in der Stadt bleiben zu können. Generell ist es aber sehr schwierig für uns Syrer*innen geworden. Und generell herrscht hier Angst, sehr viel Angst. Die Leute gehen nicht mehr aus ihren Häusern raus. Es gibt WhatsApp Gruppen, in denen man sich gegenseitig über die Polizeirazzien informiert und sich gegenseitig warnt, wo gerade durchsucht wird. Es ist eine Stimmung, wie im Jahr 2011, als wir uns in Syrien vor den Sicherheitskräften versteckt haben. Der Mensch hat eigentlich das Recht auf Bewegungsfreiheit. Wir haben gerade keine Bewegungsfreiheit. Wir haben das Recht nicht.