Das „Türkische Restaurant“ vom besetzen Tahrir-Platz 2019. Auf den herunterhängenden Bannern stehen die vielfältigen Forderungen der Protestierenden.

Erst kommt die Vergesellschaftung der Universitäten, dann der Sturz des Systems

In der Opposition zu Saddam Hussein spielte die Studierenden-Bewegung im Irak und im Exil eine wichtige Rolle. Nach der US-Invasion 2003 zerfiel sie, formierte sich im Oktober 2019 wieder neu und spielte eine wichtige Rolle in der Tashrin-Revolution. Karrar Adasa gibt im Interview Einblick in die Rolle der Studierenden-Bewegung während und nach der Revolution und was heute von ihr geblieben ist.

Das „Türkische Restaurant“ vom besetzen Tahrir-Platz 2019. Auf den herunterhängenden Bannern stehen die vielfältigen Forderungen der Protestierenden.

Karrar Adasa heißt nicht wirklich so, zu seinem Schutz haben wir seinen Namen geändert. Er ist 25 Jahre alt und in Bagdad aufgewachsen. Hier studiert er derzeit Architektur im letzten Semester. Karra war von Anfang an in die Proteste in Bagdad involviert. Aufgrund seiner politischen Engagements auf dem Tahrir-Platz hat er seine Arbeitsstelle in einer Fabrik verloren und arbeitet heute auf Baustellen, um sich sein Studium zu finanzieren. Er träumt von einer Irak- und Kurdistan-weiten Studierenden-Organisation.


2019 haben Tausende Schüler*innen und Studierenden an der Tashrin- Bewegung im Irak als aktive politische Kraft teilgenommen. Wie kam es dazu?

Direkt am ersten Tag, dem 1. Oktober, hat die Regierung versucht die Proteste gewaltsam niederzuschlagen: Auf die Demonstrierenden wurde geschossen, es gab schnell Tote. Das hat die Menschen aber nicht eingeschüchtert – ganz im Gegenteil: Am nächsten Tag strömten noch mehr Menschen auf die Straßen zum Tahrir-Platz. Die nächsten drei Tagen waren die schlimmsten der Tashrin-Revolution – über 80 Menschen kamen ums Leben. Danach haben sich die Proteste in die Wohnviertel verlegt, weil die Straßen gesperrt wurden. Damit hat sich aber auch die Gewalt dorthin verlagert, weil auch in den Wohngebieten versucht wurde die Proteste gewaltsam zu unterdrücken. Wegen anstehender Feiertage gab es eine Art Waffenstillstand für zwei Wochen.

Studierende solidarisieren sich mit den Protesten und demonstrieren vor ihren Universitäten
Die sog. Grüne Zone ist eine 2003 unter US-Besatzung und der irakischen Interimsregierung entstandene Internationale Zone. Sie beherbergt das Parlament und weitere wichtige Regierungsgebäude. Sie liegt direkt gegenüber vom Tahrir-Platz und ist mit diesem durch eine Brücke verbunden – ist aber nicht für Publikumsverkehr geöffnet.

Danach gingen die Proteste weiter und die Regierung hat diese auch sofort wieder versucht zu unterbinden und uns die Wege abzuschneiden, damit wir den Tahrir-Platz nicht erreichen können. Uns ging es dabei nicht um den Tahrir-Platz selbst. Wir wollten von dort ins politische Herz der Macht eindringen: die Grüne Zone. Am Sonntag nach dem 25. Oktober haben sich dann die Studierenden angeschlossen und sich gegenüber der Universitäten versammelt – als Stärkung des Tahrir-Platzes.

Ab wann haben sich die Studierenden den Protesten am Tahrir-Platz unmittelbar angeschlossen?

Die gesamte Bewegung hat sich erst nach zwei Wochen zum Tahrir-Platz aufgemacht. Manche Studierende haben aber schon vorher beides gemacht. Ich war auch morgens bei den Protesten an den Unis und nachmittags auf dem Tahrir.

Die Studierenden und Schüler*innen sind in einen totalen Streik gegangen und haben angefangen sich als gesellschaftliche Gruppe zu begreifen, die eine Funktion haben kann. Was hat zu diesem Umdenken geführt?

Zunächst ging es ihnen um Solidarität mit der Protestbewegung – die Idee innerhalb der Studierendenschaft Proteste zu organisieren kam später von einzelnen. Einer hat seine hohe Social Media-Reichweite genutzt, um zu mobilisieren. Im nächsten Schritt haben wir gezielt Multiplikator*innen mit einer ebenso hohen Reichweite angesprochen und gleichzeitig Vertreter*innen einer progressiven Politik gebeten, unsere Stellungnahmen mit den Medien zu teilen. So bekamen wir Aufmerksamkeit. Dann haben wir vor allem die Studierenden zu einer Studierenden-Demonstration vor dem Ministerium für öhere Bildung eingeladen und sind von dort zusammen Richtung Tahrir gegangen. Ab November gab es dann regelmäßig Demonstrationen von Studierenden und Schüler*innen mit bis zu knapp 50.000 Teilnehmenden, bei denen sie auch das politische System klar kritisierten.

Man könnte also behaupten, dass aus Tashrin eine Studierenden-Bewegung hervorgegangen ist. Wie hat sich das weiterentwickelt?

Die Studierenden haben begonnen sich zu organisieren innerhalb der einzelnen Institute. Sie wählten oder ernannten nun Repräsentant*innen, die an gemeinsamen Treffen teilnahmen. Auf dem Tahrir-Platz stellten die Studierenden Zelte für ihre Fachbereiche auf, beispielsweise gab es ein „Zelt der Ingenieur*innen“. Dann gründeten wir alle gemeinsam die „Studierenden-Union Bagdad“.

Der Tahrir-Platz war das Epizentrum der Proteste in Bagdad und seit ihrem Beginn besetzt. Er bildete eine revolutionäre Zone und fungierte als eine Art Begegnungsstätte. In Eigenregie wurden Bereiche mit kostenlosem Essen, Elektrizität und Wasser zum Waschen und Duschen von den Besetzer*innen eingerichtet. Außerdem gab es Orte zum Lesen von Büchern und ein Zelt für die medizinische Versorgung.
Einige Zelte repräsentieren bestimmte Regionen des Irak, Rentner*innen oder Berufsgruppen wie Ingenieurverbände, etc. Zwischen ihnen fanden Treffen statt, bei denen sie Alltagsfragen besprachen, aber auch Fragen der Führung, das Schreiben einer neuen Verfassung oder das Abhalten von Seminaren über verschiedene politische Themen diskutierten. Auch die Studierenden hatten hier ihre Zelte aufgeschlagen und damit eine eigene politische Repräsentation auf dem Tahrir-Platz. Es waren auch vor allem sie, die z. B. die Feldkrankenhäuser auf den Protestplätzen aufrecht erhielten.

Worum ging es ihnen?

Es war am Anfang sehr wichtig, die Idee einer Union zu stärken und zu vermitteln, warum Studierende organisiert sein sollten. Das war im Dezember 2019. Diese Union entwickelte sich dann zu einer Art Pulsschlagader für die Protestbewegung innerhalb der Studierendenschaft.

Wie sah die Organisierung konkret aus?

Wir sind aus einer kleinen Gruppe heraus erwachsen, die zunächst über Telegramm die Demonstrationen vorbereitet hat, bis wir uns für die Absprachen und Organisation auf dem Tahrir-Platz getroffen haben. Ab da wuchsen wir – von allen Instituten gab es insgesamt 55 Vertreter*innen. Von allen Gruppierungen waren wir die mit der besten Organisation. Es war für uns sehr einfach, weil wir uns alle kennen und uns in den Universitäten regelmäßig sehen. Es gibt keine andere gesellschaftliche Gruppe, die über solche Beziehungen verfügte.

Aber als die ideologischen Differenzen innerhalb der Union sichtbar wurden, begannen die Schwierigkeiten. Das war der Moment, als wir die Selbstorganisation vom Level der Organisierung von Demonstrationen zur Ausformulierung von konkreten Forderungen heben wollten.

Was waren die Streitpunkte?

Es kristallisierten sich drei politische Ausrichtungen heraus: Islamisten, Pro-Neoliberalisten und progressive Akteur*innen, die für gesellschaftliche Gleichheit eintreten. Außerdem gab es religiöse Kräfte, die jedes Statement mit „b-ism-illah“ („im Namen Gottes“) beginnen wollten. Da spalteten wir uns schon mal in Religiöse und Säkulare.

Ein inhaltlicher Knackpunkt war die Frage, ob Bildung frei und kostenlos für alle sein sollte oder nicht. An diesen Differenzen und Fragen ist die Studierenden-Union nach einem Jahr zusammengebrochen.

Ich selbst und die progressiven Studierenden haben uns dann den anderen Aktivist*innen-Gruppen angeschlossen, die durch die Revolution entstanden sind. Uns ging es ja nicht nur um die Forderungen der Studierenden, sondern wie diese mit der größeren Politik zusammenhängen. Kostenlose Bildung ist für uns eine Frage von sozialer Gerechtigkeit, die alle betrifft.

Was ist eure Lehre aus dem Zerfall der Union?

Also die islamistischen und auch die neoliberalen Kräfte unter den Studierenden versuchen derzeit, die Union wiederzubeleben. Aber ohne uns. Für uns ist klar, dass die Union eine politische Ausrichtung braucht, und diese muss soziale Gerechtigkeit sein.

Wir wollen deshalb eine radikale Studierenden-Union aufbauen. Wir müssen den Studierenden aufzeigen, welche politischen Themen sie direkt angehen: Abschaffung aller Studiengebühren an staatlichen Universitäten. Das gilt insbesondere für den Nachmittagsunterricht, auf den alle angewiesen sind, die vormittags arbeiten. Außerdem brauchen die staatlichen Universitäten mehr finanzielle Unterstützung vom Staat und ein höheres Budget, denn derzeit müssen die Studierenden alle Materialien selbst bezahlen. Und wir fordern die Verstaatlichung aller privaten Universitäten, um die Klassengesellschaft unter den Studierenden abzuschaffen. Das greift direkt das herrschende System an, denn viele der islamistischen Parteien des Regimes besitzen private Universitäten und finanzieren sich dadurch.

Was fordern die islamistischen und neoliberalen Kräfte stattdessen?

Sie wollen den Status-Quo erhalten. Sie versuchen den Studierenden aufzuzeigen, wie sie vom jetzigen System profitieren können. Im Irak gibt es zentral festgelegte NCs, die für alle Universitäten gelten, außer für die privaten, die das NC-System sehr frei handhaben. Also, wenn ich Ingenieurswissenschaften studieren will, aber den vom Staat festgelegten NC nicht erreiche, dann habe ich keine Chance. Es sei denn, ich habe genug Geld, um mich einfach bei einer privaten Universität einzukaufen. Zusätzlich könnenStudierende sich seit 2014 an staatlichen Universitäten jeweils 3 Prozentpunkte einkaufen. 3 Prozentpunkte für Medizin kosten z.B. jeweils 9.000.000 IQD (circa 5.100 EUR), einige brauchen aber mehr als 3 Punkte, um den verlangten Durchschnitt zu erreichen. Das verstärkt die Klassengesellschaft.

Was ist eure Strategie, um eine neue Studierenden-Union aufzubauen?

Wir versuchen gezielt, Multiplikator*innen an den Universitäten für unsere Forderungen zu gewinnen. Das ist wirklich nicht so einfach, weil nicht alle gleich viel unter dieser Situation leiden. Das ist dann sehr deprimierend. Wir geben aber nicht auf, sondern müssen im Kleinen anfangen und wirken: Das Essen in den Campus-Mensas ist teurer als außerhalb des Campus, ebenso der Transport innerhalb des Campus. Wir wollen den Studierenden erklären, warum das keinen Sinn macht, ungerecht ist und deshalb abgeschafft gehört. Der Staat zahlt die Busse auf den Campus, ebenso das Benzin und den Fahrer – warum ist der Transport dann nicht kostenlos? Warum werden wir Studierenden als konsumierende Gruppe angesehen und ausgenutzt?

Wenn wir kleine Erfolge in diesen Bereichen erzielen, dann werden wir auch für die großen politischen Forderungen, beispielsweise die Abschaffung der Studiengebühren Mehrheiten mobilisieren können.

Bei der Tashrin-Revolution ging es darum, das politische System zu stürzen, nun redest du von teurem Mensa-Essen und Studiengebühren an den privaten Universitäten. Was hat das miteinander zu tun?

Das politische System wird diese Gebühren nicht abschaffen. Denn die regierenden Parteien profitieren vom Neoliberalismus. Sie wollen das neoliberale System sogar ausweiten – es geht um weitere weitreichende Privatisierungen im Bildungs- und Gesundheitsbereich.

Das politische System ist auf den Neoliberalismus angewiesen, eine Vergesellschaftung der Universitäten wäre eine Bewegung gegen die Neoliberalisierung. Es wäre der erste Schritt weitere Bereiche der Gesellschaft zurückzuführen. Wir als Studierende sind am besten organisiert und können deswegen diese Forderung viel einfacher aufstellen als die breite Gesellschaft.

Weil ihr euch jeden Tag an einem Ort seht?

Ja genau. Anders als die Arbeiter*innen, die jeden Tag an einem anderen Ort arbeiten und sehr vereinzelt sind. Aber dennoch ist diese Selbstorganisation von Seiten des Staates kriminalisiert, immer wieder wurden Aktivitäten von Studierenden verboten.


Im Irak werden Aktivist*innen verfolgt, verhaftet und auch ermordet. Das Jugend- und Kulturzentrum Bagdad bietet ihnen einen sicheren Raum – wo es liegt, ist geheim. Nur so können junge Aktivist*innen an einer gerechten, demokratischen und Menschenrechtsbasierten Zukunft arbeiten.

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