„Es könnte unser letztes gemeinsames Bild sein“

Das Ausmaß und die Brutalität von Kriegen werden oft anhand der Anzahl getöteter Zivilist*innen gemessen. Was oft untergeht, sind die Auswirkungen auf die (Über-) Lebenden im Krieg. Unser Partner Diyar von PÊL berichtet, wie es sich derzeit im Nordosten Syriens unter Dauerbeschuss der Türkei lebt und wie PÊL hilft die Not zu lindern, obwohl sie selbst betroffen sind.

Er hat bereits die ersten beiden völkerrechtswidrigen Angriffskriege der Türkei erlebt, nun ist der dritte im Gange. Unserem langjährigen Partner Diyar vom PÊL Civil Waves Zentrum in Qamishli setzt die Situation zu, aber Aufgeben ist für ihn keine Option.


„Die Bombardierungen sind neu, aber ihnen voraus gingen monatelange Drohnenangriffe der Türkei. Wir haben hier Krieg im Dauerzustand und stehen deshalb psychisch massiv unter Anspannung. Vor ein paar Monaten ist meine Cousine bei einem Drohnenangriff getötet worden. Seitdem ist erst recht nichts mehr, wie es vorher war. Meine gesamte Familie ist traumatisiert. Wir kriegen Panik, wenn wir ein Flugzeug hören, auch wenn wir wissen, dass es von der Koalition ist und kein türkisches. Die Angst hat sich tief in uns reingefressen. Seit dem Start der Bombardierungen mache ich immer ein Foto, wenn ich mich beispielsweise mit Freund*innen treffe – es könnte unser letzte gemeinsames Bild sein.


So geht es nicht nur mir oder meiner Familie. Leider konzentrieren sich immer alle primär auf die Todesopfer, aber Krieg ist mehr als das.

Es ist ein kollektives Trauma, das wir hier erleben und das einfach nicht endet. Umso wichtiger ist, dass wir die zivilgesellschaftliche Arbeit jetzt aufrechterhalten, nicht nur trotz dieser Umstände, sondern insbesondere wegen dieser. Es ist aber sehr schwierig.

Wir können derzeit keine Veranstaltungen oder Versammlungen durchführen. Das ist wegen der Angriffe offiziell verboten. Und derzeit sind alle mit sich selbst beschäftigt, aber, wenn wir es nicht schaffen den Austausch untereinander sicherzustellen, dann verlieren wir als Zivilgesellschaft sehr viel von dem, was wir in den letzten Jahren erreicht haben. Wir sehen jetzt schon, dass sich verschiedene (ethnische und religiöse) Gruppen eher wieder voneinander entfernen.

Das ist für uns sehr schmerzhaft zu sehen, weil wir jahrelang sehr hart daran gearbeitet haben, Verbindungen zu schaffen und einen Zusammenhalt herzustellen. Dank unserer jahrelangen Arbeit sind diese zwar belastbar, aber Extremsituationen über Monate und Jahre hinweg können sie (noch) nicht aushalten. Es besteht eine ernsthafte Gefahr, dass das, was wir geschaffen haben, von der Türkei jetzt zerstört wird. Dabei waren wir auf einem richtigen guten Weg, deshalb versuchen wir Möglichstes dagegenzuhalten und die Gesellschaft zusammenzuhalten.

Deshalb gehe ich jeden Tag ins Büro, obwohl ich mir nicht sicher sein kann, dass ich wieder nach Hause komme.

Ich weiß nicht, ob und wann die Türkei unser ziviles Zentrum als legitimes Ziel identifiziert. Sie macht ja keinen Unterschied zwischen militärischen und zivilen Zielen.

Diese potenzielle Gefahr hält uns aber nicht ab, sie spornt uns noch weiter an. Es gibt ja auch keine andere Möglichkeit. Wir versuchen die Gesellschaft zusammenzuhalten und müssen parallel auch Nothilfe betreiben und diese vorbereiten. Das kann alles nicht warten. Bereits in den letzten Wochen haben wir die Zeit genutzt um eine Nothilfestruktur aufzubauen, damit wir schnell reagieren können, wie beispielsweise jetzt bei den Bombardierungen. Wir haben so viele Menschen wie möglich in erster Hilfe und medizinischer Versorgung geschult.

Außerdem haben wir uns eine Genehmigung für die Aufnahme und Registrierung von Flüchtlingen ausstellen lassen und unser Büro so umgestellt, dass wir mindestens zehn Familien bei uns Unterschlupf bieten können, sobald hier die Flüchtenden aus Kobanê/Ayn al-Arab und Tell Rafat ankommen.

Auf Basis unserer Erfahrungen bei der letzten türkischen Invasion 2019 in einem Camp mit über 900 Familien haben wir ein gut funktionierendes System erarbeitet, das hilft, vulnerable Menschen schneller zu identifizieren und gemäß ihren Bedarfen schnell zu entsprechenden Versorgungsstellen weiterleiten zu können. Das ist sehr wichtig, weil vulnerable Personen schnell übersehen werden.

Wir rechnen damit, dass dieses System und unsere gesamte Nothilfestruktur in Kürze voll beansprucht wird. Wir beobachten die Situation in Kobanê/Ayn al-Arab und Tell Rafat sehr genau und sind in ständigem Kontakt mit Menschen vor Ort. Sie haben alle gepackt und sind darauf vorbereitet jede Sekunde zu fliehen. Sie haben von Sere Kaniye/Ras Al-Ain vor drei Jahren gelernt. Damals haben es viele nicht mehr geschafft zu gehen. Jetzt wollen die Leute weg, bevor die Türkei mit allem, was sie hat, angreift. Wir gehen stark davon aus, dass auf die Bomben, ein richtiger Bombenregen folgt und dann erwarten wir die Bodentruppen. Bis zu uns hier nach Qamishli werden sie sich nicht trauen. Das wäre für die Türkei zu gefährlich – auch politisch – weil hier ja auch die USA und Russland präsent sind. Aber Kobanê/Ayn al-Arab und Tell Rafat sind nicht sicher, das hat Erdogan ja auch bereits öffentlich erklärt, dass er Kobanê/Ayn al-Arab haben möchte.

Die Situation ist unerträglich. Das Einzige, das wir tun können, ist die Gesellschaft zusammenzuhalten, und Nothilfe zu leisten für jene, die von der Türkei in die Flucht getrieben werden.“


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