Nach einem Selbstmordanschlag im türkischen Suruç, nur wenige Kilometer von Kobani entfernt, hat der konservative türkische Präsident Erdoğan angekündigt, die Türkei würde nun mit militärischen Mitteln gegen ISIS in Syrien vorgehen. Über ein Jahr lang duldete die Türkei, dass der „Islamische Staat“ Städte und Orte jenseits der über 900 km langen Grenze nach Syrien kontrollierte – und die Türkei ist zudem bis heute das wichtigste Transitland für IS-Kämpfer aus Europa in den Krieg nach Syrien. Der Ankündigung Erdoğans zufolge soll es damit nun vorbei sein und das letzte, noch von ISIS kontrollierte Gebiet entlang der türkisch-syrischen Grenze solle eine Sicherheitszone werden, geschützt mit einer Flugverbotszone und kontrolliert von der gemäßigten syrischen Opposition.
Doch parallel zum angekündigten Krieg gegen ISIS ließ Erdoğan den Friedensprozess mit der kurdischen Arbeitspartei PKK platzen. Landesweit kam es in den ersten Tagen zu über 1.000 Festnahmen, wovon die große Mehrheit sich gegen vermeintliche SympathisantInnen der PKK richtete, darunter zahlreiche PolitikerInnen der HDP-Partei. Deren Einzug in das Parlament hatte nach den Wahlen Anfang Juni verhindert, dass die von Erdoğan geführte AKP eine absolute Mehrheit erreichen konnte. Die PKK wird international noch immer als Terrororganisation eingestuft, obwohl sie sich im Kampf gegen ISIS im Irak als verlässlichste und schlagkräftigste Kraft erwiesen hat. Auch ihre Schwesterpartei PYD konnte in Syrien mit Unterstützung von Luftangriffen der US-geführten Allianz militärische Erfolge gegen die Radikalislamisten erzielen, etwa um die Belagerung von Kobani zu beenden.
Das massive Vorgehen gegen die PKK und HDP in der Türkei deutet darauf hin, dass der Kurswechsel der Türkei auch innenpolitisch motiviert ist. Seit der Parlamentswahl sind die Koalitionsgespräche nicht voran gekommen, möglicherweise könnte es im Herbst zu Neuwahlen kommen. Der Druck auf die als kurdisch wahrgenommenen Kräfte könnte das Ziel verfolgen, deren Wahlaussichten zu schmälern. Doch gleichzeitig ist zu bedenken, dass ein außenpolitischer Kurswechsel der Türkei – so er konsequent vollzogen wird – massive Auswirkungen in der gesamten Region hätte.
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Was ist in Suruç passiert und wie reagiert die Türkei darauf?
Am 20. Juli sprengte sich in Suruç ein türkischstämmiger Anhänger des „Islamischen Staats“ inmitten einer Solidaritätsveranstaltung für Kobani in die Luft und riss 31 weitere Menschen mit den in Tod. Die Opfer waren mehrheitlich kurdischstämmige Studierende, die sich auf Unterstützungs- und Wiederaufbauaktionen in Kobani vorbereiteten. Am folgenden Tag wurden in Celanpinar zwei Polizisten tot aufgefunden. Auch wenn es zunächst keine offizielle Stellungnahme gibt, vermuten türkische Offizielle dahinter einen Angriff der kurdischen Arbeitspartei. Solidaritätsdemonstrationen im ganzen Land für die Opfer von Suruç werden von der türkischen Polizei mit Wasserwerfern und Tränengas aufgelöst.
Bei Razzien werden über 1.000 Personen festgenommen, weil sie entweder ISIS oder die PKK unterstützen sollen, wobei relativ sehr wenige Personen mit Verbindungen zu ISIS betroffen sind. Auch Funktionäre der pro-kurdischen, aber auch von einer breiten linken Bewegung getragenen HDP müssen sich Ermittlungen stellen. Mit Militäreinsätzen geht die Armee gegen einige ISIS-Stellungen entlang der türkisch-syrischen Grenze vor, sowie massiv beiderseits der türkisch-irakischen Grenze gegen die PKK.
Wie stehen die Angriffe der türkischen Armee zur US-geführten Allianz, die mit Luftangriffen gegen ISIS in Irak und Syrien vorgeht?
Über Monate hatten USA und Türkei insbesondere über die Öffnung des Luftwaffenstützpunkts Incirlik verhandelt, welchen die Türkei nicht für Angriffe gegen ISIS zur Verfügung stellen wollte. Mit der Offensive der Türkei wurde der Stützpunkt, dessen Nutzung das Bombardement der USA in Nordsyrien deutlich erleichtert, für die internationale Allianz geöffnet. Im Gegenzug unterstützten die USA rhetorisch auch die Angriffe gegen die PKK, auch wenn deren Schwesterpartei PYD in Syrien ein Verbündeter der USA ist im Kampf gegen ISIS und deren Kämpfer am Boden die größten militärischen Erfolge gegen ISIS erzielt haben. Auch im Irak waren Kämpfer der PKK erfolgreich gegen ISIS, etwa bei der Befreiung der Jesiden aus dem Sindjar-Gebirge. Es erscheint, als hätte das US-Militär Zugang zum Stützpunkt Incirlik bekommen im Austausch gegen eine Unterstützung der türkischen Angriffe auf die PKK.
Was hat es mit der ins Spiel gebrachten „Sicherheitszone“ in Nordsyrien auf sich?
Die Sicherheitszone in Nordsyrien scheint ein idealer Schnittpunkt der türkischen und der US-amerikanischen Interessen zu sein: Entlang der türkisch-syrischen Grenze soll ein rund 90 km langer Sicherheitsstreifen entstehen, der von ISIS befreit und von gemäßigten syrischen Oppositionellen am Boden kontrolliert werden soll. Derzeit ist das Gebiet, von dem schnell erste Karten auftauchten, noch von ISIS kontrolliert. Sollte ein solches sicheres Gebiet entstehen, wäre es für die Türkei möglich, keine weiteren Flüchtlinge aufzunehmen, sondern diese dort anzusiedeln. Zudem liegt das Gebiet zwischen den kurdischen Gebieten um Kobani und um Afrin, so dass diese nicht durch einen weiteren Fortschritt der Kurden gegen ISIS verbunden werden könnten.
Eine Sicherheitszone in Nordsyrien wird schon seit Längerem diskutiert. Aufgekommen war der Vorschlag, eine Flugverbotszone zu schaffen, in der Flüchtlinge versorgt werden könnten, ohne das Land verlassen zu müssen. Jedoch gab es weder ein UN-Mandat für eine entsprechende Flugverbotszone, noch wollte ein Staat einseitig den Konflikt mit dem Assad-Regime eingehen, dessen Armee weiterhin die Lufthoheit in Syrien hat. Auch bei den US-Luftangriffen im Land kommt es bislang zu keinen Zusammenstößen mit der syrischen Armee. Obwohl keine Flugverbotszone eingerichtet werden soll, wäre diese de facto notwendig um die Menschen in Syrien zu schützen, die noch immer zu großer Anzahl durch Angriffe der syrischen Luftwaffe mit unpräzisen Fassbomben ums Leben kommen, ISIS und die anderen oppositionellen Kräfte verfügen über keine Luftwaffe.
Doch während die türkische Regierung den Vorschlag einer Sicherheitszone ins Spiel brachte und in der Öffentlichkeit forcierte, hat die US-Regierung längst zurückgerudert. Den USA geht es in Syrien einzig um den Kampf gegen ISIS, eine Flugverbotszone gegenüber dem Assad-Regime durchzusetzen, ist derzeit offenbar nicht im Interesse der USA.
Wie schätzen die Kurden in der Türkei und in Syrien die Entwicklung ein?
Selahattin Demirtas, der Vorsitzende der pro-kurdischen HDP, beschrieb die Eskalation als Putsch. Denn die derzeitige Regierung der AKP verfügt im Parlament seit der Wahl Anfang Juni über keine Mehrheit mehr und die Koalitionsgespräche gehen nicht voran. Stattdessen sieht Demirtas vor allem die Gefahr, dass Erdogan die Türkei in die militärische Eskalation treibt, um bei Neuwahlen, die er erklärtermaßen im Herbst durchführen möchte, in einer veränderten Situation als der Staatsführer auftreten zu können.
Viele Kurden in Syrien schätzen derweil die US-Unterstützung der türkischen Angriffe gegen die PKK als große Enttäuschung ein. Als militärische Kraft gegen die ISIS-Terrormiliz sind die Kämpfer der PYD gern gesehen und bekommen Unterstützung durch US-Luftangriffe – während die Mutterorganisation der PYD mit Duldung der USA als Terrororganisation verfolgt wird. Gleichzeitig kritisieren einige, dass die Türkei zwar den Luftraum des Irak verletzt, um PKK-Stellungen anzugreifen, während alle Angriffe auf ISIS in Syrien nur bei peinlicher Achtung des syrischen Luftraums erfolgt sind. Es gab zudem Berichte, nicht nur ISIS sei in Syrien angegriffen worden, sondern auch ein Dorf von türkischem Boden aus beschossen worden, das von der PYD kontrolliert wird.
Was bedeuten diese Entwicklungen für den Konflikt in Syrien?
Zunächst einmal nicht viel. Eine Sicherheitszone scheint nach der Absage der USA wieder auf Eis zu liegen. Zwar könnten die Angriffe der USA gegen ISIS in Syrien durch die Nutzung der Airbase in Incirlik effizienter werden; doch die Angriffe seitens der Türkei auf ISIS waren bisher alles andere als entschlossen. Und das Assad-Regime scheint bei all dem völlig außen vor zu sein – seine Luftwaffe kann es weiter weitgehend unbehelligt einsetzen.
Wie reagiert die Bundesregierung auf die Eskalation in der Türkei?
Gemeinsam mit anderen Nato-Partnern warnte die Bundesregierung die Türkei davor, den Friedensprozess mit der PKK zu beenden. Gleichzeitig blieb es bei sehr diplomatischen Aussagen. Dabei hätte die Bundesregierung durchaus die Möglichkeit, in dem Konflikt Stellung zu beziehen: Zur Würdigung des Einsatzes der PKK im Kampf gegen ISIS und als Antwort auf die Beendigung des Friedensprozesses mit der PKK durch die türkische Regierung, könnte die Bundesregierung sich dafür einsetzen, die PKK von internationalen Terrorlisten zu streichen.