In Saraqeb demonstrierten Menschen mit Flaggen der syrischen Revolution gegen die Regime-Offensive und gleichzeitig energisch gegen die Miliz HTS.

Idlib: »Wir sind keine Lämmer im Schlachthaus«

In der Region Idlib kam es in den letzten Tagen in mehreren Städten immer wieder zu Demonstration. Das ist angesichts der dramatischen Lage nicht selbstverständlich: Seit Monaten wird Idlib vom Assad-Regime und von russischen Flugzeugen bombardiert. Doch die Proteste richten sich nicht alleine gegen das Regime.

In Saraqeb demonstrierten Menschen mit Flaggen der syrischen Revolution gegen die Regime-Offensive und gleichzeitig energisch gegen die Miliz HTS.

Maarat al-Nu’man ist eine Kleinstadt mit 80.000 Einwohner*innen im Nordwesten Syriens, die seit Langem von oppositionellen Milizen kontrolliert wird. Die Stadt in der Region Idlib wurde in den vergangen Monaten immer wieder Ziel von syrisch-russischen Luftangriffen. Am 23. Juli wurde der Gemüsemarkt bombardiert, etwa 50 Menschen wurden getötet.

Doch nicht nur das Regime und Russland haben es auf die Stadt abgesehen. Auch die radikal-islamistische Extremistengruppe HTS, die in Idlib große Teile beherrscht, versucht immer wieder Fuß zu fassen, wogegen sich die einheimische Bevölkerung seit Jahren wehrt

Teile der Bevölkerung in Maarat al-Nu’man in Idlib versammelten sich Anfang der Woche, um für den Fall des Regimes und ein Ende der Gewalt von der Extremistengruppe HTS zu demonstrieren. Auch in vielen anderen Teilen der Region Idlib finden seit dem 30. August immer wieder Demonstrationen statt.

Mit Protesten an der Grenze fing es an

Die Protestwelle begann Ende letzter Woche an der türkisch-syrischen Grenze in Bab al-Hawa. Demonstrant*innen stürmten die Grenze und forderten die Öffnung der Fluchtwege. Türkische Einsatzkräfte antworteten mit Tränengas und Schüssen. Die Demonstrant*innen protestierten gegen die syrische Militäroffensive auf Idlib und die fehlende Unterstützung der Türkei.

Proteste an der türkischen Grenze
SyrerInnen zogen zur türkischen Grenze und forderten Schutz vor der Offensive des Regimes und offene Fluchtwege.

Die Proteste an der Grenze scheinen sich auf weitere Teile Idlibs ausgeweitet zu haben. Aus neun Städten gibt es Berichte über Demonstrationen. Auch in Atareb gingen zahlreiche Menschen auf die Straße, riefen Slogan der Revolution, forderten den Sturz des Assad-Regimes und Schutz vor russischen Angriffen.

Besonders bemerkenswert ist, dass viele Protestierende den Abzug der Miliz HTS forderten, die die Stadt Anfang des Jahres eingenommen hatte. Mit Sprüchen wie “Komm schon, Jolani, wir wollen dich nicht” zogen sie mit großen Protesten durch die Straßen – Jolani ist der Anführer der Anführer der Extremistengruppe HTS.

Atareb: Keine Angst mehr vor HTS

HTS ist bekannt dafür, mit Gewalt gegen Gegner*innen vorzugehen. “Die Demonstranten gingen in Richtung der Polizeistation in Atareb. Das ist einer der wenigen Orte, wo HTS besonders effektive und starke Präsenz zeigt. Die Leute warfen Steinen auf die Polizeiwache und es war klar: die Barriere der Angst vor HTS wurde gebrochen”, berichten uns ein Partner aus Atareb. Auch viele Frauen haben sich an den Protesten beteiligt.

Saraqueb: Proteste trotz heftiger Angriffe

“Wir waren überrascht darüber, wie hoch die Zahl der Teilnehmer und Teilnehmerinnen war und wie lautstark sie gegen HTS und Jolani protestiert haben”, so ein Organisator der Demonstrationen in Saraqeb, wo drei Tage hintereinander Demonstrationen stattfanden. 

Wegen der Angriffe des Regimes auf Saraqueb sind bereits viele Einwohner*innen geflohen. “Die intensiven Angriffe hängen mit der Präsenz von HTS zusammen. Schaut euch die Situation seit HTS doch mal an. Die meisten NGOs und Hilfsprojekte haben ihre Arbeit wegen HTS gestoppt”, sagte ein Demonstrant.

Saraqeb war eine der ersten Städte, die HTS von anderen oppositionellen Milizen erobern konnte. Nun hat HTS die Stadt verlassen. Die Intensität der Demonstrationen gegen die Extremistengruppe steckte auch andere Städte an. Auch in Kafr Takharim riefen die Menschen Parolen gegen den HTS-Anführer Jolani. 

Hintergrund Waffenstillstand 

Die Proteste brachen am 30. August zeitgleich mit einer Ankündigung eines Waffenstillstands durch den Russischen Verteidigungsminister aus. Nur Stunden nach der vereinbarten Waffenruhe griffen allerdings die USA bzw. Die US-geführte Anti-Terror-Koalition Ziele eines Trainingslagers von Extremisten in der Provinz Idlib an, manche Quellen berichten über eine hohe Zahl ziviler Opfer.

Obwohl seit der Einnahme der Stadt Khan Sheikhun am 19. August durch Regime-Truppen und russische Einheiten die Bodenoffensive näher rückt, Luftangriffe in den letzten Monaten fast täglich zivile Todesopfer forderten und HTS hart gegen politische Gegner vorgeht, hat die zivile Bewegung in Syrien offenbar immer noch Kraft für Proteste.

Nicht wie Lämmer im Schlachthaus sterben

“Ich gehe auf die Straße gegen HTS, weil unsere Revolution auf der Straße stattgefunden hat. Die Straße ist unsere Stimme. Durch die Mobilisierung auf der Straße haben wir das Regime vertriebe. Deswegen hat HTS auch Angst, dass sich das Szenario wiederholt. Der Anfang ist immer die Straße”, sagt uns ein Aktivist aus Atareb. 

Die Zivilbevölkerung Idlibs will sich nicht damit abfinden, dass Russland, die Türkei, die USA, das Assad-Regime und dschihadistische Milizen über ihr Schicksal entscheiden. Die heftigen Proteste an der türkischen Grenze kommentierte ein Aktivist mit dem Satz: Die Welt erwarte offenbar von den Menschen in Idlib, sie verhielten sich brav wie Schafe im Schlachthaus. Den Gefallen aber wolle man der Welt nicht machen.