Ramzi Merhej bei einer Kundgebung in Berlin.

»Ob Beirut oder Damaskus: es geht um dasselbe«

Der Aktivist und Konfliktforscher Ramzi Merhej hat in Berlin zusammen mit anderen Libanes*innen kurz nach der verheerenden Explosion in Beirut eine Protestkundgebung vor der libanesischen Botschaft organisiert. Weshalb und warum hat er uns in diesem Interview erklärt.

Ramzi Merhej bei einer Kundgebung in Berlin.

Du gehörst zu den Initiatoren der Protestkundgebung vor der libanesischen Botschaft – warum habt Ihr diese Kundgebung organisiert? Welche Hoffnung verbindest Du damit?

Uns ging es um eine deutliche Botschaft an den libanesischen Botschafter und auch um eine Botschaft an die deutsche politische Öffentlichkeit. Dieser Botschafter repräsentiert das korrupte Regime – wer einen solchen Posten im diplomatischen Dienst des libanesischen Staats innehat, gehört zu jenen, die jetzt abtreten müssen, damit sich etwas ändert. 

Unsere wichtigste Botschaft an die deutsche Regierung und die Öffentlichkeit ist: Kein Cent für den libanesischen Staat! Das Regime steckt sich Hilfsgelder hemmungslos in die eigene Tasche. Stattdessen braucht es Hilfe, die bei der Zivilbevölkerung auch ankommt.

Die Explosion im Hafen von Beirut gilt als Gipfel des Versagens der regierenden Kräfte des Libanon.

Wir brauchen aber nicht nur humanitäre Hilfe, sondern politische Solidarität. Im Libanon droht ein Teufelskreis aus Gewalt, ein neuer Krieg. Ich habe Konfliktforschung studiert und gebe Kurse in gewaltfreier Kommunikation. Und selbst ich sehe mich schon in den Krieg ziehen, so wütend bin ich. Und dabei lebe ich derzeit noch nicht mal im Libanon – wie wütend müssen erst die Leute in Beirut sein! Wenn politisch nichts passiert, wird die Situation eskalieren.

Was braucht es, damit eine Eskalation verhindert werden kann?

Es ist jetzt noch nicht die Zeit für große realpolitischen Konzeptionen, aber wir brauchen maximalen politischen Druck, damit es zumindest kleine politische Änderungen gibt. Wir brauchen Hoffnung, dass wir die Zukunft konstruktiv gestalten können. Es braucht einen Prozess, der uns Vertrauen gibt, dass sich grundsätzlich etwas ändert.

Die Regierung ist zurückgetreten  – ist das nicht schon so ein Schritt ?

Nein! Solange nur das Regierungspersonal ausgetauscht wird, ändert sich gar nichts. Der Präsident muss zurücktreten! Hinter ihm steht die Hisbollah, sie ist das Machtzentrum dieser Regierung, und der Hisbollah, aber auch der Amal-Bewegung und den anderen Klientelparteien muss klar gemacht werden, dass sie abtreten müssen und dass jetzt ein neues Kapitel beginnt jenseits des Konfessionalismus.

Das konfessionelle Proporzsystem des Libanon, das einst die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen abbilden sollte, hat sich längst als undemokratisch und extrem korruptionsfördernd erwiesen.

Was hälst Du in dieser Hinsicht von den angekündigten Neuwahlen? 

Ich habe die große Befürchtung, dass sich am Ende diejenigen Akteure durchsetzen, die jetzt an der Macht sind, weil sie die meisten Ressourcen haben – und schlicht Waffengewalt! Wer traut sich es mit einer bewaffneten Partei wie die Hisbollah aufzunehmen? 

Die Hisbollah und die Amal-Bewegung schaffen ein Klima der Gewalt. Selbst hier in Berlin droht jedem, der sich deutlich gegen die Hisbollah ausspricht, von Hisbollah-Leuten zusammengeschlagen zu werden. Die Hisbollah tut so, als würde sie die Libanes*innen hier repräsentieren. Tatsächlich sorgt sie mit Drohungen dafür, dass sich niemand gegen sie ausspricht.

Wenn es in diesem Klima der Gewalt jetzt im Libanon Neuwahlen gibt, haben alle Menschen Angst. Und am Ende sehen sie sich dann motiviert, aus dieser Angst heraus genau wieder diejenige konfessionelle Partei zu wählen, die ihrer jeweiligen Gruppe Schutz verspricht! Das klientelistische System lebt von dieser Angst. Ich kenne das aus meiner eigenen Familie und kann die Angst verstehen, aber davon müssen wir endlich weg. 

Milizen wie die Hisbollah prägen die Situation des Libanon und verhindern demokratische Prozesse. Wer die Hisbollah kritisiert, lebt gefährlich.

Es müsste jetzt das Parlament unter öffentlicher Aufsicht in einem transparenten Prozess eine Übergangsregierung einsetzen, die freie und faire Wahlen vorbereitet, bei denen gewährleistet ist, dass Akteure jenseits der jetzt an der Macht beteiligten Parteien Chancen haben. Dafür gibt es jetzt eine Chance.

Aber die Hisbollah und auch die anderen Akteure werden kaum ihre Macht abgeben…

Wir haben jetzt eine Chance, weil die Hisbollah stark unter Druck geraten ist. Sie ist so schwach wie selten. Wenn wir diese Chance jetzt nicht nutzen und die alten Parteien denken, sie könnten so weitermachen, droht uns schon bald ein neuer Krieg. 

Ich fürchte außerdem, dass die westlichen Staaten wieder den Fehler machen könnten, „Stabilität“ über alles zu setzen, dass sie darauf hoffen, dass sich wieder eine starke Autorität etabliert – nach dem Motto: Hauptsache keine Eskalation. Das wird aber nicht funktionieren, sondern eine Eskalation höchstens verschieben.

Was braucht es stattdessen?

Wir brauchen dringend eine echte Demokratisierung – und zwar nicht nur in Bezug auf Parlament und Regierung. Ich habe auf der Kundgebung Nasrallah kritisiert, und wurde dafür sofort angegangen, denn der Hisbollah-Anführer gilt vielen Libanes*innen als eine Art Heiliger. Uns geht es darum, diese patriarchalen Strukturen anzugreifen und uns für eine demokratischere und freiere Gesellschaft einzusetzen.

Das gilt für die gesamte Region, etwa für den Iran, der die Hisbollah unterstützt, und auch für Syrien. Am Ende hängen all diese Kämpfe sehr eng zusammen. Wir können sie nicht alleine gewinnen, sondern nur gemeinsam. Wir sagen: Ob Damaskus oder Beirut: Es geht um ein und dieselbe Sache.

Nach der Explosion im Hafen von Beirut unterstützt Adopt a Revolution Projekte von syrischen Aktivist*innen im Libanon, die von der Katastrophe in Mitleidenschaft gezogen wurden. Ob die zerstörte syrische-libanesische Gemeinschaftsküche oder die wütenden Proteste gegen die Regierung – die kritische Zivilgesellschaft brauch unsere Unterstützung. Helfen Sie mit!