Kurz erklärt: Kommt jetzt Assads Idlib-Offensive?

Russland und das Assad-Regime bombardieren seit Tagen die Region Idlib. Wir erklären die politischen Hintergründe – und was jetzt droht.

Was passiert gerade in Idlib?

Seit einer Woche bombardieren das Assad-Regime und Russland Ziele in den Provinzen Hama und Idlib. Die Region im Nordwesten Syriens ist eine der letzten unter Kontrolle aufständischer Milizen. Die mächtigste dieser Gruppen ist die aus al-Qaida hervorgegangene Dschihadistenallianz Hai’at Tahrir al-Sham (HTS), die seit Ende 2018 massive Gebietsgewinne gegen die verbliebenen (von der Türkei mehr schlecht als recht unterstützten) Rebellengruppen erringen konnte.

Eigentlich gilt für Idlib eine von Russland und der Türkei verhandelte Waffenruhe. Türkisch-russische Observationsposten und Patrouillen entlang einer die Provinz umschließende Pufferzone sollten deren Einhaltung garantieren. Währenddessen fiel der Türkei die Aufgabe zu, die Provinz zu stabilisieren und gegen HTS vorzugehen. Das alles ist aber reine Theorie: Die Türkei hat keine Fortschritte gegen die Radikalen verzeichnen können, die immer wieder das russische und syrische Militär beschossen haben. Zudem kam es regelmäßig zu Angriffen des Assad-Regimes, durch die während der letzten drei Monate laut UN-Angaben rund 300 Menschen in Idlib starben, 60 davon im April.

Nun sieht es so aus, als ob es doch zur lang befürchteten Offensive kommen könnte: Die Angriffe des Regimes und seiner Alliierten konzentrieren sich bislang weitgehend auf den Süden des Gebiets. Dabei wurden hunderte international geächtete Fassbomben eingesetzt. Mehr als 150.000 Menschen sind mittlerweile geflohen, zwölf medizinische Einrichtungen wurden bombardiert. Willkürlicher Bombenterror und gezielte Angriffe auf zivile Infrastruktur wie Krankenhäuser gehören zum modus operandi des syrische Regimes und Russlands. So machen sie der Bevölkerung in oppositionellen Landesteilen das Leben unerträglich und schwächen ihren Durchhaltewillen.

Kommt es jetzt wirklich zur Offensive?

Das ist zu befürchten. Allem Anschein nach gibt es seit gestern nicht mehr nur Luftangriffe, sondern auch ein Vorrücken von Bodentruppen. Die syrische Staatspropaganda läuft bereits auf Hochtouren. Dennoch bleiben viele offene Fragen. Assad verspricht zwar seit Jahren, jeden Flecken Syriens zurückzuerobern, doch im Falle Idlib steht er vor einem massiven Problem: In diese Provinz (und das angrenzende türkische Besetzungsgebiet) wurden all jene Rebellen und Zivilisten vertrieben, die bislang nicht bereit dazu waren, sich der syrischen Armee zu unterwerfen. Fast alle relevanten Schlachten des Syrienkrieges der letzten Jahre endeten mit dem Abzug der Rebellen nach Idlib. Von dort kann der Weg nur noch in türkisches Besatzungsgebiet nördlich von Aleppo führen. Das aber platzt aus allen Nähten, die Mieten in halbwegs sicheren Städten wie Azaz sind horrend. Eine Alternative existiert nicht: Die türkische Grenze ist dicht. Es gibt also keine einfachen Lösungen wie bei bisherigen Offensiven, die einfach in den Abzug der Oppositionellen mündeten.

Insgesamt leben bis zu drei Millionen Menschen in Idlib, etwa die Hälfte davon Binnenvertriebene. Die Provinz galt bereits vor dem Krieg als eine der ärmsten Gegenden Syriens. Heute sind etwa Dreiviertel der Bevölkerung von humanitärer Hilfe anhängig. Die chronisch unsicheren und chaotischen Gebiete unter türkischer Kontrolle könnten hunderttausende weitere Flüchtlinge wohl kaum stemmen. Auch Russland und das Regime müssen sich mit diesem Problem auseinandersetzen.

Einige AktivistInnen aus Idlib äußerten in den letzten Tagen die Hoffnung, dass Russland nur der Türkei Druck machen will, endlich ihre Versprechen zu halten und gegen HTS vorzugehen: Die jüngste Verhandlungsrunde in Astana war Ende April ergebnislos zu Ende gegangen, am Tag danach begangen die Bombenangriffe auf Idlib. Andererseits stellt sich die Frage, was Russland von Ankara erpressen wollen könnte. Insbesondere haben Moskau und Damaskus wohl großes Interesse an zwei wichtigen Transportrouten, die mitten durch Idlib führen.

Eine Offensive könnte jedenfalls zu einem Blutbad ausarten. Davor warnten auch die Vereinten Nationen. Anders als in Ost-Ghouta oder Aleppo, wo dies immer nur von der syrischen und russischen Propaganda behauptet worden war, ist ein Ableger al-Qaidas in Idlib tatsächlich die dominante Fraktion. Während eine weitere große Vertreibung oppositioneller Bevölkerung schwer vorstellbar ist, ist sie für HTS wohl überhaupt keine Option. Diese radikalen Kämpfer haben nichts mehr zu verlieren.

Wie ist das Verhältnis von Zivilbevölkerung und HTS?

HTS kann keineswegs auf den Rückhalt der Bevölkerung setzen; zahlreiche Städte der Region haben eine lange Tradition des Widerstands gegen die Extremisten. Ein Aktivist aus Hama berichtet uns: „Die Leute haben das Gefühl, dass HTS verantwortlich ist für die heutigen Angriffe, weil sie die Freie Syrische Armee vertrieben haben. Sie hassen HTS.“

Kritiker werden von HTS verfolgt, inhaftiert und bisweilen ermordet. Allem Anschein nach fahren die Radikalen gegenwärtig eine weitere Kampagne gegen ihre Kritiker. Trotz der katastrophalen Lage in Idlib scheint HTS während der letzten Tage zudem unverfroren weiter „Steuern“ eingetrieben zu haben. Ein Aktivist klagte: „Es bleibt nur noch die Luft, für die sie keine Abgabe verlangen. Und wenn sie könnten, würden sie wohl auch die noch besteuern.“