Idlib: Nirgends in Syrien ist die Lage komplizierter

Steht in Idlib die nächste große Schlacht des syrischen Krieges bevor? Die Lage vor Ort ist schon jetzt katastrophal.

Vielleicht steht Syrien die verheerendste Schlacht des ganzen Krieges noch bevor. „Der Zeitpunkt unseres Sieges ist nah“, schrieb Bashar al-Assad jüngst in einem Brief. Die bisherigen Verluste der Rebellen hätten ihnen einen „Vorgeschmack ihrer bitteren Niederlage“ gegeben. Doch dafür müssten erst die nordwestliche Provinz Idlib und der Westen der Provinz Aleppo erobert werden. Während der russische Syrien-Gesandte Alexander Lawrentiew erst vor wenigen Tagen erklärt hatte, dass eine Offensive „derzeit nicht in Frage kommt“ und man weiterhin auf die türkischen Bemühungen setze, Idlib zu stabilisieren, zieht die syrische Armee bereits Truppen zusammen. In Sotschi hatten sich die jüngsten Verhandlungen zwischen dem Iran, der Türkei und Russland vor allem um Idlib gedreht – wenig ist jedoch über deren Details bekannt.

Drei Millionen Menschen leben mittlerweile in der Provinz. Die Hälfte davon sind Binnenvertriebene, die aus dem ganzen Land nach Idlib deportiert wurden, darunter auch tausende Kämpfer. Idlib galt bereits vor dem Krieg als eine der ärmsten Gegenden des ganzen Landes und ist somit völlig überfordert: Etwa Dreiviertel der Bevölkerung sind heute von humanitärer Hilfe anhängig.

Die USA strichen Stabiliserungshilfen

Seit März hat sich die humanitäre Lage weiter verschärft, nachdem die Vereinigten Staaten 200 Millionen Dollar an Hilfsgeldern eingefroren haben. Waren Teile davon ursprünglich für die Stabilisierung Idlibs gedacht, wird dieses Geld nun anscheinend vor allem im Nordosten des Landes eingesetzt. In Idlib führt das dazu, dass viele Lehrer kein Gehalt mehr bekommen und zahlreiche zivile Verwaltungen auf dem Trockenen sitzen – obwohl nicht wenige davon sich recht erfolgreich gegen die in der Provinz dominanten Extremisten engagiert hatten. Das führt dazu, das die Rolle der Militanten und ihrer zivilen Vorfeldorganisationen in betroffenen Gemeinden größer wird. Auch Syriens größte unabhängige Radiostation erhält nun keine Unterstützung mehr. Ihr Gründer Raed Fares, der mehrfach von Extremisten angegriffen und verhaftet wurde, schrieb daraufhin in der Washington Post: „Die befreiten Gebiete, in denen wir tätig sind, sind besonders anfällig für Machtkämpfe, und die Unterstützung der Zivilgesellschaft und der Mediengruppen ist hier von entscheidender Bedeutung.“

Militärisch konkurrieren diverse meist radikale Milizen um die Vorherrschaft. Hai’at Tahrir al-Sham (HTS), ein dschihadistisches Bündnis an deren Spitze der syrische al-Qaida-Ableger steht, kontrolliert weiterhin große Teile der Provinz. Ihm gegenüber stand bislang das Bündnis Jabhat Tahrir Suriya (JTS), ein Zusammenschluss der fundamentalistischen Milizen Ahrar al-Sham und Nour al-Din al-Zenki. Am 1. August schloss sich JTS mit weiteren kleineren Rebellengruppen der Nationalen Befreiungsfront an und erklärten jedwede Angriffe der syrischen Armee abwehren zu wollen. Beide Seiten verschleppen und foltern ihre Gegner. Auch für Frauen ist das Leben in Idlib besonders schwierig „Sie zwingen den Frauen den Gesichtsschleier auf und beschränkten ihre Bewegungsfreiheit“, erzählt Hawla, eine Frauenrechtlerin und arbeitet für ein von Adopt a Revolution gefördertes Frauenzentrum. Alle ihre Aktivitäten werden bespitzelt. Frauen erlebten Gewalt und Bedrängnis inner- und außerhalb ihrer Häuser. Die hizba, die Sittenpolizei, beschimpft und belästigt Frauen. Die Radikalen schieben die Sicherheitslage als Grund dafür vor, dass Frauen das Haus nicht verlassen sollen. „All das sorgt für großen psychologischen Druck“, sagt Mumina, die ebenfalls für das Zentrum arbeitet.

Trotzdem machen die Aktivistinnen weiter: Psychosoziale Unterstützung, Diskussionsrunden über Bildung, Verhaftete und Bürgerrechte. Politische Workshops, Medientraining und Rechtsberatung. Sie streiten gegen gewalttätige Erziehung und Kinderehen. In manchen Gemeinden außerhalb der Kontrolle von HTS haben sich Frauen trotz allen Widerständen in die politische Sphäre gekämpft und nehmen öffentliche Ämter wahr.

Eine Offensive der Armee könnte zum Blutbad werden

In vielen Städten wie Saraqeb oder Maarat al-Nu’man haben Zivilisten zudem immer wieder erfolgreich gegen HTS demonstriert.

Die militärische Lage aber bleibt unübersichtlich und chaotisch. JTS und HTS haben sich seit Ende 2017 heftige Kämpfe geliefert. Seit April 2018 kam es zu einer beispiellosen Serie von Attentaten auf Kader beider Seiten sowie auf zivile Anführer. Hunderte starben, darunter auch viele unbeteiligte Zivilisten. Zudem erschüttern immer wieder Anschläge die Provinz. Die Sicherheitslage ist somit auch für die Zivilisten mehr als nur fragil.

Idlib gehört zu den vier 2017 von Russland, Iran und der Türkei vereinbarten „Deeskalationszonen“ (von denen drei mittlerweile wieder vom Assad-Regime zurückerobert wurden). Ankara war laut dem Abkommen dafür verantwortlich, in Idlib „terroristische“ (HTS) von „nicht-terroristischen“ Fraktionen zu trennen. Deshalb unterstützt die Türkei JTS im Kampf gegen HTS – die Erfolge dieser Operationen fielen jedoch bislang bescheiden aus. Zudem hat Ankara an den Grenzen der Provinz mehrere Beobachtungsposten eingerichtet.

Die Lage ist explosiv, eine Offensive des Regimes könnte zu einem gewaltigen Blutbad ausarten. Anders als in Ost-Ghouta oder Aleppo, wo dies immer nur von der syrischen und russischen Propaganda behauptet worden war, ist HTS in Idlib tatsächlich eine dominante Fraktion. Auch JTS ist sehr brutal. Elemente beider Bündnisse haben im Laufe des Krieges Massaker und andere schwerwiegende Kriegsverbrechen begangen. In Aleppo oder Ost-Ghouta endete die Schlacht mit dem Abzug der Rebellen – nach Idlib. Aus Idlib aber kann der Weg nur noch in türkisches Besatzungsgebiet nördlich von Aleppo führen. Für JTS mag dies eine Möglichkeit sein – aber wohl kaum für HTS. Diese radikalen Kämpfer haben also nichts mehr zu verlieren.