Seit Monaten fliegen die USA mit Verbündeten Luftangriffe in Nordsyrien. Eine Analyse
Hinrichtungen vor laufender Kamera, Kreuzigungen von Kriegsgefangenen – zu Recht ist das Entsetzen groß über die offen zur Schau gestellte Grausamkeit, mit der Dschihadisten des „Islamischen Staats“ (IS) ihre Herrschaft errichten. Nach dem Fall der Millionenstadt Mossul, dem drohenden Genozid an den JesidInnen und der Hinrichtung von zwei US-amerikanischen Geiseln reagierte eine internationale Allianz unter Führung der USA mit einer militärischen Intervention auch in Syrien.
Die Bilanz dieser Luftschläge fällt für die Menschen in Syrien widersprüchlich aus: Einerseits haben die Angriffe der Allianz ermöglicht, dass die VerteidigerInnen von Kobanî die IS-Angreifer zurückdrängen und ein neues Massaker verhindern konnten. Die Entspannung für die Gebiete unter kurdischer Selbstverwaltung ist zweifelsohne ein wichtiger Erfolg und ist ein erster – wenn auch begrenzter – Fortschritt bei der Bekämpfung der Dschihadisten in Nordsyrien.
Allerdings bewirkten die Luftangriffe für den Rest des Landes das Gegenteil von Entspannung: Wieder einmal nutzte das Assad-Regime die Aufmerksamkeit für eine aktive US-amerikanische Intervention, um das Bombardement oppositioneller Gebiete zu intensivieren – ohne jede Rücksicht auf zivile Opfer.
Dabei schien die Führung in Damaskus zunächst verunsichert und schränkte eigene militärische Aktivitäten in den ersten Tagen der Luftschläge ein. Doch als deutlich wurde, dass die Angriffe nicht das Ziel verfolgen würden, auch den Beschuss der Damaszener Vorstädte oder den Abwurf todbringender Fassbomben auf Wohnviertel von Aleppo zu unterbinden, wirkte die beschränkte Intervention nur gegen den IS wie ein neuerlicher Freibrief für das Regime. Nie zuvor fielen die Fassbomben auf Aleppo, das seit Sommer 2012 heftig umkämpft ist, in so schneller Folge wie kurz nach Beginn der US-Luftangriffe.
AktivistInnen zeigten sich angesichts der intensivierten militärischen Operationen des Assad-Regimes wenig überrascht, handelt es sich doch um ein bekanntes Schema. Immer dann, wenn sich die internationale Gemeinschaft in Syrien auf etwas „Neues“ konzentriert – in diesem Fall auf den Kampf gegen den IS – nehmen die Angriffe des staatlichen Militärs zu. So geschehen etwa nach der Vereinbarung zur Aufgabe des syrischen Chemiewaffenarsenals im Herbst 2013: Das Regime verhängte Hungerblockaden gegen ganze Städte, ohne neue Sanktionen fürchten zu müssen.
Die Skepsis der SyrerInnen gegenüber den US-geführten Luftangriffen entspringt zudem der nachvollziehbaren Frage, warum damit nicht auch die Barbareien und Massaker des Assad-Regimes beendet werden sollen. Selbst wo den Menschen neue Unterdrückung durch den IS bevorsteht, drohen die Luftschläge zur Unterstützung der Dschihadisten zu führen, indem sie zur Radikalisierung der Bevölkerung beitragen. Viele arabisch-sunnitische SyrerInnen fühlen sich zum wiederholten Male als Opfer zweiter Klasse, denen die mehrfach zugesagte Unterstützung für den Aufstand, gegen Regime wie IS, vorenthalten wird.
Allerdings werden weder der Kampf gegen den IS noch die Stabilisierung gelingen können, wenn nicht endlich die Verbrechen des IS und des Assad-Regimes zusammen gedacht und angegangen werden. Luftschläge gegen eine Seite mögen zur kurzfristigen Entspannung führen und konkrete Massaker verhindern. Eine langfristige Lösung bewirken sie dagegen nicht. Gar das Gegenteil, wie die Gefahr der steigenden Radikalisierung zeigt.
Letztlich kann nur ein politischer Ansatz, der das Vertrauen der arabisch-sunnitischen Mehrheitsbevölkerung gewinnt und sowohl dem IS-Terror als auch den anhaltenden massiven Menschenrechtsvergehen des Assad-Regimes Einhalt gebietet, den immer neuen Zulauf für fundamentalistische Gruppen verhindern.
„Eure schändliche Gleichgültigkeit wird tausende Bin Ladens produzieren“, stand schon Anfang 2012 auf einem der bekannten Banner aus dem Städtchen Kafranbel. Wie der Vormarsch des IS eindrucksvoll belegt, sollten die AktivistInnen Recht behalten. Damit ist jedoch keineswegs gesagt, dass im Umkehrschluss eine militärische Intervention neue Bin Ladens verhindert.
Dieser Kommentar zur Lage in Syrien erschien auch in der Adopt a Revolution-Zeitung vom Dezember 2014, die Sie hier als PDF abrufen können. Bestellen Sie einige Exemplare der Zeitung, um Sie an FreundInnen und Bekannte weiterzugeben, in Geschäften auszulegen oder bei Veranstaltungen zu verteilen. Gerne senden wir Ihnen kostenfrei Exemplare zu. Senden Sie uns dazu einfach eine Email an: info@adoptrevolution.org
Seit Ende 2011 unterstützt Adopt a Revolution die Projekte der jungen syrischen Zivilgesellschaft für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte. Zivile AktivistInnen streiten weiterhin für ihre Freiräume und sind die letzten, die in Syrien noch humanitäre Hilfe für die Opfer von Verfolgung durch Diktatur und IS-Terror leisten können. Helfen Sie mit, diese Projekte der Selbsthilfe zu ermöglichen!