Wer sind die zentralen Akteure in der syrischen Provinz Idlib?
Wichtigste Miliz in Idlib ist die dschihadistische Hai’at Tahrir al-Sham (HTS), die maßgeblich aus der ehemaligen Nusra-Front besteht. Die Nusra-Front, mittlerweile unbenannt in Jabhat Fatah al-Sham, gibt vor, sich von al-Qaida losgesagt zu haben. Ob dies stimmt oder nicht: Die Ideologie der Gruppe hat sich nicht nennenswert geändert. HTS kämpft immer wieder gegen andere lokale Milizen wie die fundamentalistische Ahrar al-Sham oder Einheiten der Freien Syrischen Armee. Auch wenn HTS militärisch eindeutig Idlib dominiert, gibt es vielerorte massiven zivilen Widerstand durch Demonstrationen bis hin zu Blockaden so etwa in Saraqeb und Maarat al-Numan.
Wie ist die humanitäre Situation in der Region?
Seit Jahren schon ist Idlib heftiger syrischer und russischer Luftangriffe ausgesetzt – diese nahmen nach Monaten relativer Ruhe seit dem 19. September wieder erheblich zu, viele Zivilisten starben, zahlreiche Krankenhäuser wurden attackiert, Ärzte ohne Grenzen warnten vor dem Kollaps der medizinischen Versorgung. Auch deshalb ist der September der blutigste Monat des bisherigen Jahres gewesen. Idlib hat hunderttausende Binnenvertriebene aus dem ganzen Land aufgenommen – Dreiviertel der Bevölkerung sind von humanitärer Hilfe abhängig.
Warum marschiert die Türkei nun ein?
Im Frühjahr 2017 haben Russland, der Iran und die Türkei die Errichtung von vier Deeskalationszonen beschlossen. Erklärtes Ziel ist es, die Gewalt herunterzufahren – jede der drei ausländischen Mächte übernimmt die Verantwortung, mäßigend auf die eigenen proxies einzuwirken. Eine weitere Verhandlungsrunde zwischen den drei Mächten geriet im Juli ins stocken, weil Ankara im Bezug auf Idlib “Bedenkzeit” anmeldete – in dieser Provinz steht die Türkei vor der schier unlösbaren Aufgabe, terroristische (namentlich: HTS) von nicht-terroristischen Fraktionen zu trennen. Seit Monaten schon zog das türkische Militär seine Truppen an der Grenze zu Syrien zusammen.
Doch es geht nicht nur um HTS: Auch in den offiziellen Verlautbarungen zur neuen Intervention hieß es, dass man keinen „Terrorkorridor“ an der südlichen Grenze dulden wolle. Gemeint ist hier vor allem das kurdische Projekt in Nordsyrien und die PKK-nahen Volksverteidigungseinheiten (YPG). Nördlich von Idlib liegt Afrin, das die Kurden als ein Kanton ihrer selbstverwalteten Region betrachten. Schon die türkische Intervention in Nord-Aleppo diente hauptsächlich dazu, eine Verbindung von Afrin zu den anderen kurdischen Gebieten zu verhindern. Mit dem Einmarsch in Idlib könnten die Türkei und die mit ihr verbündeten Rebellengruppen Afrin bald umzingelt haben.
Offiziell spricht Ankara von einer “Aufklärungsmission”.
Wie steht Russland zu diesem Vorgehen?
Russland duldet das Vorgehen nicht nur, sondern unterstützt es aktiv und ist eng in die Operation eingebunden sein: Während es der Türkei obliegt, Ruhe in Idlib zu schaffen, fällt Russland die Aufgabe zu, die innersyrischen Grenzen der Provinz zu sichern. Die Luftunterstützung für die Militäroperation wird nicht von der türkischen, sondern von der russischen Luftwaffe kommen. Längst hat die Türkei vom Sturz Assads abgelassen, hat verbündete Rebellen gar dazu gebracht den Kampf gegen Assad hintanzustellen und sich stattdessen auf den Kampf gegen die Kurden zu konzentrieren. Seit vielen Monaten schon nähern sich Ankara und Moskau immer weiter an.
Wie geht es jetzt weiter?
Es ist unklar, wie genau die Türkei in Idlib vorzugehen gedenkt. Augenzeugen zufolge soll HTS den türkischen Konvoi nach einem kurzen Feuergefecht an der Grenze gar eskortiert haben. Ankara scheint auf eine Verhandlungslösung zu setzen. Politiker bestätigen, dass man Gefechten völlig aus dem Weg gehen will. Ob und wie das funktionieren soll, wird sich zeigen.
Sind die Türkei überhaupt dazu in der Lage, Ordnung in Idlib zu schaffen?
Ende August 2016 marschierte die Türkei im Norden der Provinz Aleppo ein und vertrieb mithilfe verbündeter arabischer Rebellengruppen den „Islamischen Staat“ aus der Region. Anschließend versuchte Ankara lokale Verwaltungen zu installieren, ignorierte dabei jedoch die bereits bestehenden Strukturen. Aufgrund der daraus resultierenden mangelnden Legitimität kam es zu Protesten der Bevölkerung, die im Februar 2017 dazu führten, dass die von der Türkei installierte Verwaltung abtreten musste. Die Türkei kontrolliert jegliches Geschehen in der „Schutzzone“ restriktiv – nur bei der türkischen Regierung registrierte Organisationen können etwa vor Ort arbeiten. Entsprechend mangelt es an Hilfe. Etwaige Wiederaufbaubestrebungen sind nicht langfristig gedacht worden, die öffentlichen Dienstleistungen sind schlecht, unterfinanziert und in ländlichen Gebieten weitgehend inexistent. Es ist zu bezweifeln, dass sich so langfristig Frieden schaffen lässt. Der syrische Analyst Haid Haid konstatiert, dass die Türkei keine überzeugende Strategie hatte und Deradikalisierungsmaßnahmen völlig vernachlässigte und so etwa insbesondere die zuvor in IS-Schulen unterrichteten Kinder extrem anfällig für die Rekrutierung durch andere radikale Gruppen zurückließ. Haids Einschätzungen zufolge ist es der Türkei nicht gelungen, das Gebiet wirklich zu stabilisieren. Unabhängigen Beobachtern wird kein Zutritt gewährt.
In Idlib verhält es sich noch weitaus komplizierter als im Norden Aleppos. HTS kann sich – die erwähnte heftige Ablehnung in manchen Orten hin oder her – vielerorts größerer Unterstützung in der Bevölkerung sicher sein als der IS seinerzeit in Nord-Aleppo. Die Provinz als solche ist zudem weitaus konservativer und litt schon lange vor dem Krieg an Verarmung und einer sozioökonomischen Krise. Die humanitäre Lage hat sich seitdem extrem verschärft. Viele mit der Türkei verbündete Rebellengruppen sehen auch die Annäherung ihres Patrons an Moskau zunehmend kritisch. Es würde an ein Wunder grenzen, wenn es der Türkei gelingen sollte, hier “Ruhe zu schaffen”.