Die Menschen in Ost-Ghouta gehörten zu den ersten, die gegen das Regime Assad protestierten. Im Zuge der Militarisierung des syrischen Konfliktes übernahmen verschiedene islamistische Milizen die Kontrolle. Diese gaben bis zuletzt den Ton an und gingen bisweilen enorm repressiv gegen die vielen, bis heute aktiven zivilgesellschaftlichen Akteure vor, welche sich ihrer Herrschaftsmethoden widersetzen.
Ost-Ghouta ist seit 2013 belagert, jedoch gab es über verschiedene Schmuggelrouten einen mehr oder minder konstanten Zufluss von Waren, Personen und auch Waffen in die Enklave. Während sich die islamistischen Milizen immer wieder Scharmützel um ihre Vorherrschaft lieferten und es mitunter zu Auseinandersetzungen mit Assads Truppen und ihren Verbündeten kam, war die Lage in Ost-Ghouta bis zum letzten Jahr relativ stabil. 2017 trat eine entscheidende Wendung ein: Mitte des Jahres wurden alle Schmuggelrouten in die Enklave hinein geschlossen. Damit gab das Regime offensichtlich auch seine eigenen wirtschaftlichen Interessen in Ost-Ghouta auf, profitierte doch vor allem Damaskus (zusammen mit der islamistischen Miliz Jaysh al-Islam, mit der es lange gemeinsame Sache machte) von dem Handel mit überteuerten Waren. Außerdem verloren die Bewohner*innen Ost-Ghoutas durch das Vorrücken der syrischen Regimetruppen lebensnotwendige landwirtschaftliche Nutzflächen. Die wenigen vom Regime genehmigten Hilfstransporte der UN erreichten nur einen Bruchteil der Eingeschlossenen. Ab November nahmen die Luftangriffe und der Artilleriebeschuss zu: Assad und seine Verbündeten zogen die Schlinge immer enger.
Der Winter setzte den Eingeschlossenen weiter zu
Um den Jahreswechsel begann eine weitere Eskalationsstufe: Tägliche Bombardierungen, an denen fortan auch die russische Luftwaffe massiv beteiligt war, forderten viele Opfer: Zwischen dem 14. November und dem 14. Februar starben nach Angaben des Syrian Observatory for Human Rights (SOHR) 720 Zivilist*innen. Sie zerstörten auch die zivile Infrastruktur, indem sie Schulen, Krankenhäuser, zentrale Bäckereien und andere zivile Einrichtungen angriffen und erschwerten das tägliche Leben immens. Denn viele konnten nun nicht mehr auf die Straße gehen, um etwa nach Essbarem zu suchen, Anfang Februar schon lebten Tausende in Kellern und Luftschutzbunkern. Der Winter, dem sich die meisten Bewohner*innen ohne Heizmaterialien und Lebensmittelvorräte gegenüber sahen, setzte den Eingeschlossenen weiter zu.
In den letzten beiden Wochen hat die Situation ihren bisherigen grausamen Höhepunkt erreicht: Täglich fallen hunderte Bomben, die Opferzahlen sind in die Höhe geschossen, Feuerpausen gibt es nicht. Allein in dieser Woche sind nach SOHR-Angaben 417 Menschen ums Leben gekommen. Über 250 Tote in mehr als 48 Stunden: Laut lokalen Aktivist*innen ist es die höchste zivile Opferzahl im gesamtem Syrienkrieg seit 2013. Die einzige Chance, das Inferno zu überleben, das der Enklave zugefügt wird, ist nun, sich 24 Stunden am Tag in Kellern und Bunkern versteckt zu halten. Dort fehlt es an Allem: Lebensmitteln, sanitärer und medizinischer Versorgung, Heizung.
Auch unsere vielen Partner sind von der aktuellen Situation betroffen: Das Frauenzentrum in Douma und die Schulen in Erbin wurden von Bomben getroffen, die Menschen, mit denen wir zusammen arbeiten mussten in Kellern Zuflucht suchen, in denen sie ausharren, wenn sie nicht unterwegs sind um Verletzte zu bergen und zu versorgen (lesen Sie hier die Berichte unserer Partner!)
Was bezwecken Assad und seine Verbündeten?
Schon Ende letzten Jahres verkündeten Assad und seine Verbündeten ein Ende des syrischen Bürgerkrieges und ihren Sieg über die Rebellen. Dabei gibt es immer noch größere Territorien, die von einer Vielzahl oppositioneller Milizen beherrscht werden und in die sich über die Jahre mehr und mehr Regimegegner*innen (und die, die vom Regime dazu gezählt werden) zurückgezogen haben: Zu diesen Gebieten gehören neben Ost-Ghouta vor allen Dingen Idlib im Nordwesten des Landes (mit 2,5 Millionen Einwohnern, darunter etwa die Hälfte Binnenflüchtlinge, die etwa aus Ost-Aleppo oder Daraya geflohen sind bzw. zwangsevakuiert wurden) und Daraa. Neben Ost-Ghouta rücken Assad und seine Verbündeten seit November auch in Idlib vor. Dort sind mindestens 200.000 Menschen auf der Flucht, die versuchen, die Provinz gen Türkei zu verlassen und dabei gegen die geschlossene türkische Grenze anrennen. Ebenso kam es in der vergangenen Woche zu Luftangriffen auf Städte und Ortschaften in Daraa.
Die Angriffswelle auf Idlib und Ost-Ghouta legt nahe, dass Assad und seine iranischen und russischen Verbündeten nun das wahr machen wollen, was sie schon zu Jahresende verkündet hatten: den letzten oppositionellen Hochburgen den gar aus zu machen und ihre Kontrolle über Syrien zu verfestigen. Dabei scheuen sie keinerlei zivile Opfer, im Gegenteil: Das Grauen, das aktuell über die Bewohner*innen Ost-Ghoutas hereinbricht, hat Methode. Denn Bomben und Hungerblockaden setzte das Regime bereits in Madaja und (Ost-)Aleppo ein, um die Bevölkerung zu zermürben und ihren Willen zu brechen.
Den Willen der Zivilbevölkerung brechen: Die zynische Aleppo-Taktik
Das Regime behauptet, sich nur gegenüber islamistischen “Terroristen” zur Wehr zu setzen und, dass diese die Bevölkerung Ost-Ghoutas in Geiselhaft genommen hat. Tatsächlich sind alle Fluchtwege aus der Ost-Ghouta durch das Regime abgeriegelt, das seinerseits keine militärischen, sondern zivile Ziele bombardiert. Unter dem Deckmantel der Terrorismusbekämpfung wird somit die zivile Bevölkerung kollektiv bestraft. Zu nennenswerten Kämpfen zwischen Armee und Rebellenmilizen kommt es dieser Tage nicht.
Vor diesem Hintergrund erscheint die gestrige Aussage des Ständigen Vertreters Syriens bei den Vereinten Nationen, Bashar Jaafari, unfassbar zynisch. Auf die Frage, ob Syrien nun Ost-Ghouta zu einem weiteren Aleppo machen wolle antwortete er: „Ich lade sie dazu ein, noch heute nach Aleppo zu fahren und sich anzuschauen, wie nicht nur Tausende, sondern Millionen von Bewohner der Stadt zurückgekehrt sind und wieder ihr normales Leben leben, nachdem der Terrorismus besiegt wurde. JA, die Ost-Ghouta wird das zweite Aleppo sein, und Idlib wird das zweite Aleppo sein und jede andere Region in Syrien, die unter dem Terrorismus bewaffneter Gruppen leidet, wird das zweite Aleppo sein.”
Mögliche Szenarien
Dass das Regime Ost-Ghouta, die Rebellenhochburg vor den Toren Damaskus’, nun endgültig zerschlagen will, scheint klar. Doch wie soll diese Einnahme konkret vonstatten gehen? Mehrere Schritte sind denkbar:
- Invasion durch Bodentruppen
Nach Angaben von Journalist*innen und Aktivist*innen sind in den letzten beiden Wochen nach und nach regimetreue Bodentruppen an die Grenzen Ost-Ghoutas verlegt worden. Viele Beobachter*innen sprechen davon, dass eine Invasion mit Bodentruppen unmittelbar bevor steht. Bisher scheute sich das Regime offenbar, diese Option einzusetzen. Denn es muss sich bewusst sein, dass in diesem Fall ein ähnlich zermürbender Häuserkampf droht, wie es ihn schon in Ost-Aleppo erlebte. Dabei sind die Regierungstruppen zwar ungleich besser ausgerüstet als die verbleibenden Kämpfer islamistischer Milizen und loser Kampfverbände der FSA. Aber letztere stammen oft aus der Enklave selbst und kennen jede Häuserzeile wie ihre Westentasche – ein Vorteil gegenüber den regimetreuen Kämpfern.
- Ergeben der Milizen
Unbestätigten Berichten zufolge befinden sich die beiden größten in Ost-Ghouta aktiven islamistischen Milizen, Faylaq al-Rahman (ein mit der Freien Syrischen Armee (FSA) zusammenhängender islamistischer Kampfverband) und Jaysh al-Islam (eine islamistische, der saudischen Regierung nahe stehende Miliz) gerade in geheimen Verhandlungen mit dem Regime und Russland. Nicht auszuschließen ist, dass Hungerblockaden und Bombardierungen die Milizen derart unter Druck setzen sollen, dass sie sich, geschlossen oder in großer Zahl, ergeben. In diesem Sinne wären es nicht die islamistischen Milizen, die Assad erpressen, indem sie Zivilist*innen als Pfaustpfand benutzen, sondern genau umgekehrt.
In jedem Fall ist keine der Milizen zur Zeit in der Lage, der militärischen Übermacht der syrischen Armee, russischen Luftwaffe und von Iran befehligten schiitischen Milizen etwas entgegenzusetzen. Auch an den Fronten an der Grenze zu Damaskus – wie in Harasta oder Jobar – gibt es weder Versuche Richtung Damaskus vorzustoßen, noch überdurchschnittlich viele Kampfhandlungen.
- Zwangsevakuierungen
Zur Zeit wirft das Regime über Ost-Ghouta Flugblätter ab, in denen es die Zivilist*innen auffordert, unter keinen Umständen bewaffnete Kämpfer zu unterstützen und Ost-Ghouta kampflos zu verlassen. Noch sind alle Übergänge geschlossen, möglich ist aber, dass Zivilist*innen in den nächsten Tagen, vor dem Einrücken der Bodentruppen, erlaubt wird, Ost-Ghouta zu verlassen. Die Frage ist nur, wohin sie fliehen können. Im Fall von Aleppo wurden viele Zivilist*innen (und einige Kämpfer) im Zuge der Invasion mit Bodentruppen nach Idlib und in andere von der Opposition beherrschte Gebiete zwangsevakuiert. Idlib kommt aktuell aber aufgrund der Sicherheits- und Versorgungslage dort nicht mehr als Ausweichort in Frage. So bliebe den Menschen, die Ost-Ghouta verlassen, nur die Flucht in vom Regime kontrollierte Territorien. Zwar garantiert das Flugblatt ihnen „Sicherheit“, wenn sie Ost-Ghouta fliehen. Was diese „Sicherheit“ bedeutet, ist leider schon oft bewiesen worden: Folter, Inhaftierungen und Exekutionen aller Personen, die im Verdacht stehen, gegen das Regime gearbeitet zu haben.
4. Eingreifen der Weltgemeinschaft
Das unwahrscheinlichste aller Szenarien ist ein entschlossenes Eingreifen der Weltgemeinschaft. Zwar forderte etwa Außenminister Gabriel einen Waffenstillstand und die Evakuierung von Kindern und Familien aus dem Gebiet. Beide Forderungen bleiben aber ohne Verhandlungsbereitschaft seitens des Regimes vorerst leere Worte. Auch bei einer Sondersitzung des UN-Weltsicherheitsrats am Donnerstag stand Ghouta, auf Antrag Schwedens und Kuwaits, auf der Tagesordnung. Doch die von ihnen vorgelegte Resolution, die eine Feuerpause von 30 Tagen und den Zugang von Nothelfern vorsah, wurde, wie so oft, von Russland blockiert.
5. Ein Exempel statuieren
Aufgrund der Nähe zu Damaskus und der Größe und Widerstandsfähigkeit des Gebiets, ist Ost-Ghouta dem Regime schon seit jeher ein besonderer Dorn im Auge. Das Regime hat hier die Möglichkeit vor den Toren der Hauptstadt ein Exempel zu statuieren – wer sich uns widersetzt, der wird nicht geschont. Erst müssen noch ein paar tausend Zivilisten sterben, bevor es Verhandlungen geben kann. Wir sind also eventuell Zeugen der letzten Etappe eines langfristigen gut durchdachten Plans: Das Regime hat seine wirtschaftlichen Interessen in Ost-Ghouta hintangestellt. Systematisch wurde die Zivilbevölkerung schon seit Mitte des letzten Jahres durch die Hungerblockade an den Rand der Erschöpfung getrieben. Das Regime bzw. die zielsicheren russischen Flugzeuge greifen die zivile Infrastruktur an – Krankenhäuser, Lagerräume von Nahrungsmitteln, Bäckereien. Alle Menschen befinden sich in den Luftschutzkellern, in denen auch die Kommunikation mit der Außenwelt nicht mehr gewährleistet werden kann. Gleichzeitig kann niemand länger als einige Tage in den Kellern bleiben, da es dort keine Nahrungsmittel gibt. Aufgrund der schon länger anhaltenden prekären Nahrungsmittelsituation konnte dort nichts für den Notfall eingelagert werden. Im nächsten Schritt werden nun seit einigen Tagen Fassbomben eingesetzt, die die Luftschutzkeller zerstören. Alles scheint darauf hinauszulaufen, so viele zivile Opfer wie möglich zu erzielen, bevor ein Lösungsvorschlag angeboten wird. Eventuell kann dann die Bevölkerung dazu gebracht werden, in die vom Regime-kontrollierten Gebiete zu gehen bzw. sich der Kontrolle des Regimes zu übergeben.
Eva Tepest
Allem Grauen zum Trotz: Wir dürfen nicht wegsehen, wenn in Syrien weiterhin systematisch das humanitäre Völkerrecht gebrochen wird. Adopt a Revolution unterstützt derzeit sieben zivile Projekt in Ost-Ghouta. Helfen Sie mit Ihrer Spende, stärken Sie zivile AktivistInnen!
Herzlichen Dank!