„In unserer Region um Zabadani (Anm: in den Bergen, unweit von Damaskus) brach die Revolution 2011 aus, nachdem der achtjährige Hani nach Streit um Geld von einem Geschäftspartner seines Vaters entführt wurde. Alle unsere Versuche mit dem Entführer Kontakt aufzunehmen und den Vorfall zu lösen schlugen fehl. Die Behörden waren informiert und wussten von der Entführung des Kindes – unternommen haben sie nichts. 28 Tage lang blieben sie untätig. Dann fand man das Kind tot an einem Flussufer.
Zu diesem Zeitpunkt stand die revolutionäre Bewegung in Syrien noch ganz am Anfang. Es hatte schon die Demonstrationen in Daraa und im Hamidiye-Souq in Damaskus gegeben. Wir in Zabadani hatten damals noch Angst auf die Straße zu gehen und uns den Protesten anzuschließen.
Das änderte sich schlagartig durch den gewaltsamen Tod des Kindes. Auch wir fingen an gegen das Regime und den korrupten Staat zu protestierten. Ich selbst bin über mehrere Ecken mit Hani verwandt, deswegen gehörte meine Familie zu den ersten, die auf die Straße gingen. Wir forderten Gerechtigkeit für Hani und die Inhaftierung des Täters, der vom Staat für seine Tat nicht zur Rechenschaft gezogen wurde. Bei den Protesten sagten wir erstmals offen: Dieser Staat ist kaputt, er ist dysfunktional, er vernachlässigt uns. Und von da an nahmen die Dinge ihren Lauf.
Frauen organisieren sich
Mein Haus lag damals etwas außerhalb des Stadtzentrums von Zabadani. Dort habe ich heimlich nachts mit anderen Frauen Plakate für die Demos vorbereitet. Wir nähten Masken in den Farben der Revolution für die Frauen, die nicht erkannt werden wollten. Und wir koordinierten die Proteste. Wenn ich mich richtig erinnere, demonstrierten wir Frauen am Anfang immer sonntags und dienstags und die Männer an den restlichen Tagen. Aber sehr bald gingen wir gemeinsam auf die Straße und die Demonstrationen wurden immer größer.
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Auch die Arbeit in unserer Frauengruppe veränderte sich mit der Zeit: Wir strukturierten uns zunehmend und verteilten spezifischere Aufgaben. Die einen waren für das Fotografieren und Filmen verantwortlich, andere für Plakate und Slogans. Die eine kümmerte sich online um die Demo-Aufrufe, die andere nahm die Planung der Route in die Hand, damit wir nicht plötzlich vor einem „fliegenden Checkpoint“ des Regimes stehen. Diese Kontrollstellen baute das Regime damals spontan in der Stadt auf, um beispielsweise Personen abzufangen, die gerade von einer Demo kamen.
Der Name der Zeitung war „Oxygen“ – er stand für die Luft zum Atmen und die Freiheit, die uns so sehr fehlt in Bashar Al-Assads Syrien.
In unserer Gruppe gab es auch immer Frauen, die als unser „Back-Office“ fungierten und Zuhause blieben. Von dort versuchten sie alle Informationen zu sammeln und uns auf der Straße auf dem Laufenden zu halten. Sie schickten uns dann Warnungen wie: „Achtung, dort ist jetzt der Geheimdienst unterwegs“, oder „Hier gibt es jetzt einen Checkpoint, passt auf“. So haben wir uns bestmöglich organisiert.
Oxygen: Die Luft zum Atmen
Wir hatten einen Freund, der in Sednaya inhaftiert war. Als er freigelassen wurde, war die Revolution gerade acht oder neun Monate alt. Er kam zurück nach Zabadani und engagierte sich sofort. Gemeinsam gründeten wir eine Revolutionszeitung, die über die Situation in Zabadani und die Ereignisse hier informieren sollte. Wir schrieben darin über den Stand der Revolution, es gab eine Seite mit Karikaturen, eine Seite für die Opfer der Gewalt, viele verschiedene Texte.
Einer der Geheimdienstler rief laut zu seinem Vorgesetzten: „Sidi, ich hab ihr Facebook gefunden!“
Die Zeitung produzierten wir bei mir Zuhause. Dazu räumten wir ein Zimmer leer und besorgten uns das nötige Equipment wie Laptops und Drucker. Der Name der Zeitung war „Oxygen“ – er stand für die Luft zum Atmen und die Freiheit, die uns so sehr fehlt in Bashar Al-Assads Syrien. Die Zeitung war bei uns in der Region ein voller Erfolg und stieß auf viel positives Feedback. Wir druckten die Ausgaben und verteilten sie heimlich nachts in den Häusern der Stadt.
„Zerschlag ihr Facebook!“
Das Regime bekam natürlich Wind davon. Es suchte uns und es fand uns auch. Mein Haus wurde von Sicherheitskräften des Regimes gestürmt, die alles verwüsteten. Sie nahmen unsere gesamte technische Ausrüstung mit. Zum Glück waren wir über geheime Kanäle vorab gewarnt worden, deshalb waren wir nicht Zuhause, sondern versteckten uns in der Nähe. Von dort schauten wir zu, wie die Regime-Kräfte in mein Haus eindrangen und alles mitnahmen. Alles, außer unsere Festplatten. Die hatten wir mitgenommen, weil sie das Wichtigste waren. Die Festplatten bekamen sie nicht.
Ich erinnere mich an eine fast lustig anmutende Szene: Sie wäre zum Lachen, wenn sie nicht so ernst wäre: Einer der Geheimdienstler rief laut zu seinem Vorgesetzten: „Sidi, ich hab ihr Facebook gefunden!“ Woraufhin der erwiderte: „Zerschlag es, davon darf nichts übrig bleiben!“ Sie hatten überhaupt keine Ahnung von diesen Sachen, sie waren total unwissend. Sie dachten, eine Facebook-Seite sei irgendetwas Physisches, das man einfach so zerstören kann, wie eines der Geräte, die da standen.
Die Februar-Razzia und die Geburt von „Dammeh“
Kurz danach im Februar 2013 gab es dann eine großangelegte Razzia des Regimes in Zabadani. Drei Tage lang durchkämmten rund 1.000 Regime-Soldaten die Stadt. Es blieb eigentlich kein Haus übrig, das sie nicht überfielen und durchsuchten. Sie beschlagnahmten alle technischen Geräte. Das zeigte sehr deutlich: Die größte Angst des Regimes war, dass Nachrichten und unsere Stimmen aus Syrien hinaus in die Welt drangen. Nach der Razzia pausierten wir unsere Arbeit für eine Weile. Eigentlich alle, die in der Stadt aktiv gewesen waren, reorganisierten sich.
Wir waren damals eine Gruppe von Frauen und Männern. Als erstes versuchten wir uns mehr über die gesamte Region zu verteilen, um uns besser vor dem Zugriff des Regimes schützen zu können. Ja, eigentlich muss man sagen: Wir flohen. Wir waren zögerlich. Sollten wir aufhören oder weitermachen? Alles, was wir taten, war extrem konspirativ – und unter diesen Umständen war fast nichts möglich.
Nach einiger Zeit hatten wir Frauen eine neue Idee. Wir beschlossen, eine reine Frauengruppe zu gründen. Wir nannten uns damals Dammeh (Umarmung). Wir leisteten humanitäre Arbeit, halfen den Menschen vor Ort und bauten kleine Projekte auf. Es waren keine riesigen Projekte mit großem Einfluss, aber es war doch für viele Menschen in der Region eine Hilfestellung und eine kleine Erleichterung. Ich war hauptverantwortlich für ein Kinder-Bildungszentrum. Eine Zeit lang koordinierte ich auch die Lagerung und Verteilung von humanitärer Hilfe.
In den Fängen des Geheimdienstes
Für ein Medien-Training ging ich eine Zeit lang in den Libanon. Bei der Zeitung Al-Nahar bildete ich meine journalistischen Fähigkeiten aus, die ich für meine Arbeit in Syrien nutzen wollte. Bei meiner Rückkehr wurde ich vom militärischen Geheimdienst verhaftet, allerdings nach vier Tagen wieder freigelassen, weil sie mir nichts nachweisen konnten.
Meine zweite Verhaftung sechs Monate später ging nicht so glimpflich aus. Ich war damals auf dem Weg von Zabadani nach Damaskus. Dort wollte ich meine Tochter untersuchen lassen, die Anzeichen von Mangelernährung aufwies. Unterwegs wurde ich verhaftet und in die Al-Khatib Geheimdienstabteilung der Staatssicherheit gebracht. Dieses Mal verbrachte ich 28 Tage – einen ganzen Monat – in einem Haftzentrum des syrischen Geheimdiensts. Es war eine sehr schlimme Erfahrung. Meine Familie bezahlte damals einen sehr hohen Geldbetrag, damit sie mich freilassen. Aber die Hafterfahrung hatte schon gewirkt: Ich hatte seitdem, ehrlich gesagt, plötzlich Angst. Deshalb wechselte ich meinen Wohnort und zog von Zabadani in die Nachbarstadt Madaya.
Die Belagerung Madayas
Einen Monat später versperrte das Regime alle Zufahrtswege – die zwei Jahre andauernde Belagerung Madayas (Bericht aus Zabadani von Anfang 2016) begann. Während der Belagerung arbeitete ich weiter, hauptsächlich im Bereich der humanitären Hilfe. Vorher hatte ich meistens im Bildungsbereich gearbeitet, aber während der Belagerung gab es dafür keinen Platz und keine Energie mehr. Alle Menschen waren körperlich und mental völlig entkräftet.
Mit Freundinnen schrieb ich Hilfsgesuche und versuchte Unterstützung von außen zu bekommen, um vor Ort humanitäre Hilfe leisten zu können. Wir schmuggelten Lebensmittel in die Stadt, indem wir beispielsweise Sicherheitsleute an den Checkpoints bestachen. Nach sechs Monaten entspannte sich die Lage etwas. Zwar versperrte das Regime immer noch alle Ein- und Ausgänge, aber es wurden internationale Hilfen der UN in die Stadt gelassen.
Dokumentation einer belagerten Stadt
Ab diesem Zeitpunkt wandte ich mich wieder der Kampagnenarbeit zu. Ich wollte zeigen, was in Madaya passiert, und dokumentierte deshalb die Situation in der Stadt. Beispielsweise sendete ich drei Tage lang zusammen mit einem Freund vom zentralen Stadtplatz über einen Livestream Updates aus der Stadt und befragte Einwohner*innen zu ihrer Situation. Wir berichteten über die Lage von Familien mit Kindern oder aus dem Krankenhaus, wo Menschen aufgrund der Belagerung ohne angemessene medizinische Versorgung in Lebensgefahr schwebten und verzweifelt auf Hilfe von Außen hofften. Es waren vielleicht keine journalistischen Meisterwerke, aber uns ging es darum, auf Madaya aufmerksam zu machen und uns und die Bewohner*innen vor dem Tod zu retten.
Und die Nachrichten kamen an (Bericht in der Süddeutschen Zeitung). Die Außenwelt hatte gesehen, wie schlimm die Situation war, in der wir hier lebten. Die UN schickte medizinische Hilfe und der Rote Halbmond bekam Zutritt zur Stadt. Das Regime hielt die Belagerung zwar aufrecht, aber die Situation besserte sich ein kleines bisschen. Ich begann wieder im Bildungsbereich, hauptsächlich mit Abiturient*innen, zu arbeiten. Mit dem Regime konnten wir für sie sogar einen Deal aushandeln: Für die Abiturprüfung durften sie kurzzeitig die Stadt verlassen, um wenigstens einen offiziellen Schulabschluss zu erhalten.
Vertreibung nach Idlib
Als das Regime Madaya und Zabadani 2017 schließlich wieder unter seine Kontrolle brachte, verließen meine Familie und ich und eigentlich alle meine Freund*innen Madaya. Die gesamte Stadt wurde nach Idlib vertrieben. Ihr habt bestimmt noch die Bilder von den berüchtigten grünen Bussen vor Augen. In Idlib ließ ich mich von meinem Ehemann scheiden und ging in die Türkei, mit der Hoffnung, dort irgendwie neu beginnen zu können. Das war leider nicht der Fall, deshalb kehrte ich schnell nach Idlib zurück und versuchte mir dort ein neues Leben aufzubauen.
Ich würde auch jetzt noch sagen, ich befinde mich immer noch in der Schlacht des Lebens, deren Ausgang noch ungewiss ist. Leicht ist das Leben aber auch hier nicht. Ich bin eine alleinerziehende Mutter einer mittlerweile achtjährigen Tochter und trage die alleinige Verantwortung für sie und unseren Lebensunterhalt. Den bestreite ich, indem ich Frauen in Seminaren politisch bilde, um sie in ihren Rechten zu stärken. Ich habe noch weitere Kinder aus einer ehemaligen Beziehung, die ich seit nunmehr sechs Jahren nicht gesehen habe. Ich hoffe jeden Tag, dass wir uns eines Tages wiedersehen werden.
Ich habe das Gefühl, ich habe in den letzten Jahren extrem viel erlebt, extrem viel Schweres: Die Haft, die Belagerung, meine Trennung, ganz auf mich allein gestellt Syrien zu verlassen. Auch die Reise in die Türkei war nicht unbeschwert. Man kann sich hier nicht einfach ein Busticket kaufen und wie eine Touristin einreisen. Die Grenzen sind zu, nur über Schleuser gelangt man rüber. Dabei werden immer wieder Menschen entführt, bestohlen, verletzt, verhaftet oder sogar getötet. Als alleinreisende Frau ist man auch sexuellen Übergriffen schutzlos ausgesetzt. Diese Erlebnisse waren allesamt wirklich keine schönen Erfahrungen. Aber heute habe ich das Gefühl, dass ich mir in Idlib ein Stück weit Stabilität zurückholen konnte – ich bin hier angekommen.
Amal heißt Hoffnung
Unser Kindergarten-Projekt „Neue Horizonte“ hat dazu viel beigetragen und für mich einen neuen Horizont eröffnet. Das Projekt heißt „Amal“ und wird betrieben von einer Gruppe von Frauen. „Amal“ bedeutet „Hoffnung“ und das passt gut, weil die meisten von uns soviel erlebt haben, dass wir dringend wieder die Hoffnung in uns selbst finden müssen. Wir müssen dieses Licht in uns weiter am Leuchten halten – es darf nicht ausgehen. Und die Energie in unserer Gruppe ist sehr positiv, wir geben uns gegenseitig Halt. Wir haben unsere Gruppe aber auch „Hoffnung“ genannt, weil wir noch Hoffnung in die Revolution haben. Wir glauben immer noch an die Idee der Revolution, auch wenn wir in den letzten Jahren gedemütigt, vertrieben und ausgenutzt wurden.
Deshalb ist uns in der Gruppe Transparenz und eine demokratische Selbstorganisation sehr wichtig. Bei uns gibt es keinen „Chef“, sondern wir stimmen über alle Entscheidungen gemeinsam ab. Jede hat ihre Aufgaben, aber keine bestimmt allein. Leider ist das nicht so selbstverständlich, da es durch die NGOisierung auch immer wieder passiert, dass Leute ihre Positionen in Organisationen ausnutzen, Gelder veruntreuen und ihre Organisationen, die eigentlich für das Gemeinwohl da sein sollten, wie kleine Diktatoren leiten.
Muntaha unterstützt als Aktivistin die gewaltfreie Erziehung von Kindern – mitten im Krieg. Unterstützen Sie diese Arbeit mit Ihrer Spende!
Bei uns läuft das anders. Und in unserem Kindergarten wollen wir in Zukunft vor allem auch Kinder aus den IDP-Camps in unserer Umgebung, Straßenkinder und Kinder aufnehmen, die aufgrund der psychischen Folgen des Krieges besondere Bedürfnisse haben. Wir sind sehr glücklich mit unserer Arbeit, weil sie einen Unterschied macht.
Noch einmal Revolution?
Die Erfahrung der Revolution, die wir gemacht haben, ist eine sehr schöne Erfahrung gewesen. Wenn ich jetzt zurückblicke und mich frage: Die Muntaha von heute, würde die sich der revolutionären Bewegung nochmal anschließen, dann ist die Antwort eindeutig: Ja, würde sie. Aber mit mehr Bewusstsein. Wir als Syrer*innen waren damals politisch ohnmächtig und handlungsunfähig. Unsere Augen waren kollektiv vor so vielen Dingen verschlossen. Wir wussten nicht, wie Zivilgesellschaft funktioniert, was Organisationen sind, wie man einen sinnvollen politischen Plan für ein Land erstellt, was Staat und Staatsbürgerschaft überhaupt bedeutet. Von all diesem Wissen hat das Regime uns immer ferngehalten, damit wir gar nicht erst erkennen, was um uns herum passiert und wo die Probleme liegen.
Wenn ich jetzt zurückkehren könnte, dann würde ich mit viel mehr Wissen und Bewusstsein an den Zielen arbeiten. Hätten wir dieses Wissen und Bewusstsein bereits damals gehabt, dann wären wir nicht dort gelandet, wo wir jetzt sind. Die Revolution hätte sich nicht bewaffnet, wir wären friedlich geblieben. Vielleicht wäre es dann irgendwie glimpflicher ausgegangen, dann wären wir vielleicht nicht in diesem Kriegsszenario gelandet.
Die Hoffnung ruht auf der nachfolgenden Generation
Zwar wird in vielen Gegenden in Syrien derzeit nicht mehr bombardiert – bei uns in Idlib fallen die Bomben aber leider nach wie vor. Gestern Nacht wurden zum Beispiel zivile Wohngegenden in Idlib bombardiert. Dabei kamen 80 Menschen ums Leben. Kinder und Frauen. Unser Gefühl ist, dass wir kurz vor dem Ende des Krieges stehen, auf den wir schon lange keinen Einfluss mehr haben. Aber die internationalen und regionalen Großmächte machen gerade noch unter sich aus, wer welches Stück vom Kuchen kriegt. Diese Region hier für uns, diese für euch.
Here #Idlib where displacement and escape from the bombing of Russia and Assad towards the unknown.
— Ahmad Darweesh (@Ahmad7syria) December 24, 2019
Where is the world from this tragedy?#SaveIdlib #EyesOnIdlib #IdlibUnderFire pic.twitter.com/W33vZD73za
Wir Syrer*innen haben einen enorm hohen Preis gezahlt. Wir wurden getötet und vertrieben. Das syrische Volk ist jetzt über die ganze Welt verstreut. Aber bereue ich es? Nein. Ich bereue es überhaupt nicht, weil die Revolution die Stimme der Gerechtigkeit war. Wir hatten Recht und wir haben Gerechtigkeit gefordert. Und unsere Stimme war sehr laut und wir haben damit die Grundpfeiler des Regimes zum Wackeln gebracht.
Ich hoffe, dass die nächsten Generationen die Zerstörung beseitigen und etwas Neues aufbauen werden. Und dass sie es besser machen werden als wir. Denn die Kinder und Jugendlichen sind jetzt schon schlauer als wir und haben mehr Wissen und ein stärkeres Bewusstsein für die Dinge, die wir in den vergangenen Jahren erst gelernt haben. Sie wissen was politisch, militärisch und gesellschaftlich um sie herum passiert und haben eine Meinung dazu. Dieses Wissen hatten wir nicht, als wir so alt waren wie sie. Und das sehe ich als etwas Positives: Die syrische Gesellschaft hat sich geöffnet. Die Köpfe der Menschen haben sich geöffnet. Deswegen war die Revolution letztendlich etwas sehr Gutes, trotz des Leids.
Die Gesellschaft verändert sich
Denn vor der Revolution waren insbesondere Frauen einem massiven gesellschaftlichen Druck ausgesetzt. In unserer Gesellschaft wurde vor allem Mädchen und Frauen häufig suggeriert, sie bräuchten keine Bildung oder Job, wenn sie nicht zwingend auf das Geld angewiesen sind. Ihnen wird eingeredet, dass eine Familie, eine Ehe, ein Haus und eine finanzielle Absicherung (egal ob Frau oder Mann) reicht, um glücklich zu sein. Mein Leben vor der Revolution folgte dieser Erzählung: Ich hatte mein Studium der Politikwissenschaft abgebrochen und ging nicht mehr zur Universität. Ich blieb zu Hause und war zufrieden damit. Ich hatte ein gutes Sozialleben und keine finanziellen Sorgen.
Aber dann, mit der Revolution, hatte ich auf einmal das dringende Bedürfnis, mich einzubringen, mich weiterzubilden, zu arbeiten. Nicht weil ich eine Anstellung oder Geld brauchte – was natürlich auch ein legitimer Grund sein kann. Sondern weil mir plötzlich klar wurde, dass Bildung nicht nur dafür da ist, danach einen Job zu finden und Geld zu verdienen, wenn man muss. Bildung ist dafür da, dass man offener wird im Kopf. Dass man versteht, was um einen herum passiert, wie die Gesellschaft funktioniert. Dass man Fragen stellt und sich selbst und seinen Intellekt immer weiter ausbildet und lernt, damit man einen Beitrag zu einer besseren Gesellschaft, einer besseren Realität leisten kann.
Deshalb habe ich nach dem Beginn der Revolution auch wieder mein Studium aufgenommen und schließlich auch abgeschlossen. Und im Anschluss daran habe ich direkt angefangen zu arbeiten – und bin damit sehr glücklich.
Frauen treten für ihre Rechte ein
Aber auch in anderen Bereichen haben sich die Syrer*innen geöffnet und sind progressiver geworden im Hinblick auf ihre Rechte und ihre Pflichten. Wenn einer Frau Gewalt in der Ehe oder der Familie erlebte, hat sie sich nicht getraut darüber zu sprechen. Frauen haben sich dafür geschämt, vor der Familie, vor Freund*innen, vor Nachbar*innen. Frauen waren gehemmt und konnten nicht sagen: Ich bin geschieden. Oder: Ich bin sauer auf meine Familie. Oder: Ich fordere meine Rechte ein. Erst Recht konnten sie nicht zugeben Opfer von Gewalt geworden zu sein: Ich wurde geschlagen, ich wurde Opfer sexualisierter Gewalt, ich wurde missbraucht – keine Frau konnte so etwas laut aussprechen.
Jetzt, nach der Revolution, hat sich die Situation der Frauen in der Hinsicht deutlich verbessert. Natürlich sind Frauen momentan einer viel größeren Belastung auf allen möglichen Ebenen ausgesetzt als vorher: Viele haben ihre Ehemänner und damit die finanzielle Stütze der Familie verloren oder wurden von ihnen getrennt. Viele sind jetzt allein dafür verantwortlich, ihre Kinder zu ernähren und Geld nach Hause zu bringen. Der Druck, der auf den Frauen lastet, ist also größer. Aber wenn man sie nach ihrer mentalen und emotionalen Verfassung fragt und danach, ob sie glücklich oder entspannt sind, dann antworten viele: Ja, bin ich. Sie sagen: Ich habe meine Ausbildung fortgesetzt oder ich habe das Abitur nachgeholt oder einen Uni-Abschluss gemacht.
Es gibt hier so viele Frauen, die sich lange in einer Leidenssituation befunden haben und sich endlich daraus befreien und sich von ihrem Mann trennen konnten. Oder Frauen, die es endlich geschafft haben über ihren Missbrauch zu sprechen. Sie alle haben ihr Leben selbst in die Hände genommen und zum Beispiel ihre Ausbildung fortgesetzt. Dabei ist es nicht immer so, dass all diese Frauen sich auch scheiden lassen. Das ist auch nicht immer die beste Lösung – viele schaffen es auch in den Konflikt zu gehen und so das Problem zu beheben, weil sie stark und selbstbewusst genug dafür sind.
Denn die meisten Ehemänner haben einfach die gesellschaftlichen Bedingungen, den ohnehin vorhandenen gesellschaftlichen Druck auf Frauen, zu ihren Gunsten ausgenutzt. Für sie war die Gleichung simpel: Sie kann halt nicht rausgehen, das gehört sich nicht. Sie braucht ihre Ausbildung nicht abschließen, das sehen doch auch alle Nachbarn so. Sie braucht kein eigenes Einkommen, weil ich bin hier der Boss, wie in allen Familien. Am Ende verlässt sie mich noch, wenn sie ihr eigenes Geld verdient.
Nach der Revolution hat sich diese Denkweise geändert – auch bei vielen Männern hat sich da was im Kopf zurechtgerückt. Sie erkennen an, dass ihre Frauen kommen und gehen können, wann und wie sie wollen, und ihr eigenes Leben leben dürfen. Die Revolution hat die Menschen geöffnet und progressiver gemacht, weil sie dadurch angefangen haben, sich mit solchen Fragen zu beschäftigen.
Die Revolution ist noch nicht vorbei
A Brigadier General of #Assad army and other officers are speechless as a local citizen in #Daraa was yelling on them due what looks a conflict at a gas station and he challenged them at the end by saying „we will return it on streets like the 2011“.#Syria #SyriaHighlights pic.twitter.com/PKXVwkAdM0
— Mohamed Al Neser 🦅 (@M_Alneser) October 27, 2020
Wie ich bereits sagte: Die Revolution hat bereits einiges Positives bewirkt. Sie ist eine Revolution der Gerechtigkeit und der Grundrechte. Und diese Ideen der Revolution vergehen nicht so leicht, sterben nicht einfach. Ich bin mir sicher, dass auch die Menschen, die in den Regime-Gebieten leben, zumindest 70 Prozent von ihnen, dieses ablehnen. Sie sind nur aus unterschiedlichen Gründen dazu gezwungen, dort zu bleiben und haben nicht die Möglichkeit, woanders hinzugehen.
Wir beobachten von hier aus sehr genau, was zum Beispiel in Daraa im Süden Syriens passiert. Das Regime hat zwar die Region zurückerobert, aber nicht die Menschen. Das Regime kontrolliert vielleicht das Gebiet militärisch, aber es kann die Menschen und ihre Gedanken nicht kontrollieren. Es gibt immer wieder Demonstrationen. Vor einer Woche haben Demonstranten einen Checkpoint der Armee vor einer Tankstelle gestürmt und dabei gerufen: ‚Wenn es so weitergeht, dann werden wir 2011 wiederholen. Wenn ihr uns weiter so behandelt, dann werden wir Daraa wieder in den Zustand von 2011 versetzen. Wir werden eine neue Revolution gegen euch anfangen.‘“
Adopt a Revolution unterstützt weiterhin syrienweit 13 Projekte, die sich für die Ziele des Aufstands gegen das Assad-Regime von 2011 einsetzen: Freiheit, Demokratie, Menschenrechte. Sie alle eint die Vorstellung, dass die Revolution einen größeren gesellschaftlichen Prozess in Gang gesetzt hat – und streiten deshalb weiter für emanzipatorische Ziele. Helfen Sie mit, unterstützen Sie diese Projekte mit Ihrer Spende!
Herzlichen Dank!